Solothurn – Mekka latenter Talente

40 Jahre Solothurner Filmtage

Ich behaupte: ohne die Erfindung der «Solothurner Filmtage» vor 40 Jahren, würde es den «Neuen Schweizer Film» nicht geben und man würde «Schweizerfilm» noch immer in einem Wort schreiben. «Ja, aber...» – höre ich alle Anwesenden sagen «...aber mich hätte es auch ohne Solothurn gegeben» – ich inbegriffen. Die Frage ist nur, wie einsam und verkannt wir heute in der helvetischen Filmlandschaft herumhängen würden.

Damals, im Jahre Null vor 40 Jahren, war zumindest meine filmische Heimat nicht die Schweiz, sondern das Kino, genauer gesagt das Autorenkino. Als ehemaliger Zürcher Kunstgewerbeschüler lag mir das amerikanische Unterhaltungskino genau so fern wie der damalige «Schweizerfilm» in einem Wort. Meine Mekka war das Experimentalfilmfestival im Belgischen Knokke-le-Zoute, von wo ich jeweils so inspiriert nach Hause zurückkehrte, dass ich sofort damit begann meine eigene «Filmkunst» zu produzieren, mit einer 16mm-Kamera und ohne Geld.

Eines Tages, als ich an meinem ersten «Filmepos» werkelte, klingelte das Telefon. Der Präsident der Filmgilde Solothurn, ein gewisser Paul Schmid, wollte von mir wissen, ob es stimme, dass ich... Ja, sagte ich, aber bei meinem Film, der momentan vier Stunden lang sei, handle es sich um ein sogenanntes «Work-in-progress» und bis im Januar könnte er gut und gern fünf Stunden dauern, was dieser sehr übertrieben fand. Schliesslich reiste ich dann mit einer einstündigen Probe-Filmrolle unter den Arm nach Solothurn.

Die ersten Filmtage anno 1966 begannen am Freitagabend und endeten mit einem Buffet am Sonntagnachmittag. Dazwischen wurden 28 Filme gezeigt und anschliessend öffentlich darüber diskutiert. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es ohnehin mehr Reden und Referate als Filme. Konkret kann ich mich aber nur noch an Peter Bichsels Plädoyer für den Trivialfilm im Restaurant «Chutz» erinnern, die mit einem immer kleiner werdenden Reiter am Horizont der Prärie endete.

Die Vorführung meines Films «Pazifik – oder die Zufriedenen» war gelind gesagt ein Desaster. Das ganze Kino pfiff und buhte, schon während dem Film. Nur die nonkonformistische Minderheit, die mich von Zürich nach Solothurn begleitete, applaudierte dafür um so lauter und rief «Bravo». Anderntags fiel auch noch die Presse über mich und meinen Film her. Einzig die NZZ liess mir (und sich) ein kleines Türchen offen, indem sie schrieb: «Die Selbstzufriedenheit mit Unter- und Überbelichtetem, dramatisch Ungefügtem und kraus Montiertem verdeckt mögliches Talent.»

Rückblickend steht fest: die Erfindung der Solothurner Filmtage erwies sich als ein kulturpolitisches Ereignis von nationaler Bedeutung, oder etwas bescheidener ausgedrückt, eine filmkulturelle Notwendigkeit für die Schweiz. Die Schubwirkung, welche von ihr alljährlich ausging, hatte eine immense Vitalisierung und Professionalisierung der gesamten Schweizer Filmszene zu Folge, und zwar von Genf bis Chiasso. Gleichzeitig war Solothurn aber immer auch ein Treibhaus für latente Talente. Zahllose Filmer und Filmerinnen haben hier ihre teils ziemlich exotischen Blüten ihres Wirkens zum ersten Mal einem echten Kinopublikum auf einer echten Kinoleinwand vorgeführt, nicht selten zum ersten und gleichzeitig zum letzen Mal. Jedenfalls war ich immer wieder von der filmischen Vielfalt und Kreativität des schnell heranwachsenden Nachwuchses beeindruckt. Ganz im Gegensatz zur einheimischen Filmkritik, für die der «Neue Schweizer Film» seit 40 in einer permanenten Krise steckt.

Schuld daran, dass es die Solothurner Filmtage überhaupt gibt, waren vier, fünf filmvergiftete junge Männer und Frauen, die im Vorstand der «Filmgilde Solothurn» sassen und als leidenschaftliche Kinogänger weitsichtig genug waren, um im genau richtigen Moment auf die Idee zu kommen, die im ganzen Land vereinzelt vor-sich-hin-drehenden Individuen an einem Ort zu versammeln und einer neugierigen Film-Gemeinde ihre Filme zu zeigen. Dank ihrem vernetzten Denkend haben sie auch die Medien aller Sprachregionen nach Solothurn eingeladen und für das «Ehrenpatronat» den sozialdemokratischen Bundesrat Tschudi überreden können.

Mit Sicherheit haben die Initianten an der «Expo 64» Henry Brands traurig-poetischen Schwarzweisfilm «La Suisse s’interroge» an gesehen und vielleicht noch Xandi Seilers «Siamo Italiani», obwohl damals das «vernetzte Denken» noch nicht in Mode war. Die drei Chef-Strategen waren Paul Schmid, von Haus aus Schulpsychologe, und verantwortlich für den aktiven Diskurs zwischen Film, Politik, Wirtschaft und Medien. Zuständig für eine neue Film-Ästhetik, bzw. die «Entschweizerung» des Filmschaffens, war Urs Reinhart, Chefarzt des Kantonsspitals zuständig. Er rief uns zu: «Belehrt uns nicht mehr! Wir stehen im Jahre Null des Schweizer Films und dies scheint mir eine beneidenswerte Gelegenheit zu sein, den Sünden der Väter zu entsagen, die Pose der pädagogisierenden Rechtschaffenheit abzustreifen und Filme zu machen, die anders sind, Filme die auch das Ausland anschauen will.» Und natürlich da war noch der falstaffhafte Medienprofessor, Stephan Portmann, der eigentliche Guru und Faktotum der Solothurner Filmtage, der während zweiundzwanzig Jahren das Zepter fest in seiner Hand behielt. Seine gravitätischen Auftritte, verbunden mit einer fast grenzenlosen Kommunikationsenergie, haben im Laufe der Jahre die anderen Gründerpersönlichkeiten und stillen Schaffer um ihn herum leider verstummen lassen.

Nicht wegzudenken aus den Filmtagen ist natürlich das «Kreuz», wo sich rund um die Uhr die aktiven und Passiven Filmgeister trafen, und wo seit eh und je der querdenkende Peter Bichsel, bei seinem Glas Wein sitzend, mit jedem eloquent über jeden gezeigte Film diskutiert, ohne einen davon gesehen zu haben.

In Solothurn haben vermutlich ebenso viele Cinéasten und Cinéastinnen ihre Karriere begonnen, wie begraben. Als Darwinist sage ich, das ist gut so. Insofern ist es müssig die unvermeidliche Frage zu stellen, ob man die Solothurner Filmtage erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe. Als Veteran erlaube ich mir viel lieber die Frage zu stellen, wie es nicht höchst Zeit für eine kleinen Revolution wäre? Zum Beispiel mit einer Neuerfindung der Filmtagen. Vielleicht in La Neuveille auf der Sprachgrenze. Einzige Teilnahmebedingung: alle bedingungslosen Anhänger der Quoten- und Erfolgsabhängigkeit hätten bedingungsloses Hausverbot. – Ich wage zu behaupten, dass ein kleines Kino und ein Wochenende, von Freitagabend bis Sonntagmittag, mehr als genügen würde, wie damals anno 1966 in Solothurn.

Fredi M. Murer © – 19. 05. 2005