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Grauzone - 1979

Alfred M. (Giovanni Früh) hat sein Hobby, die Tonjägerei, zum Beruf gemacht; er ist, getarnt als kaufmännischer Angestellter, Abhörspezialist eines Grosskonzerns geworden. Am Ende einer Arbeitswoche glaubt er Zeuge einer Entführung geworden zu sein. Allenfalls steht sie in Zusammenhang mit einer mysteriösen «Bekanntmachung», welche das ganze Land beunruhigt. Alle Medien beschäftigen sich mit einem Pirateninserat, das die Symptome einer rätselhaften Epidemie aufzählt und ein «Gegengift» vorschlägt: «Tun Sie etwas Freiwilliges, oder Sie erwachen nicht mehr.» Alfred M. weiss an diesem Wochenende lange nicht, ob er sich selbst abhanden kommt oder ob er sich findet. Julia (Olga Piazza), seine Frau, spürt eine plötzliche, noch grössere Entfremdung und sucht ein Akupunkteur auf, oder lässt sich von einer Katzenmutter (Janet Haufler) aus einem Brief voller beängstigenden Ahnungen vorlesen. Alfred begegnet einem Prediger, der von einem Schiff aus seine Angst vor der Angst herausschreit und verhaftet wird, einem Instinktforscher (Michael Maassen), der die Herrschaft der technoiden Nekrophilie beklagt, einem Taxichauffeur (Mathias Gnädinger), der die eigenen vier Wände zur autonomen Republik erklärt hat.

Während die Landesregierung und die Medien aller Schattierungen - auch ein offenbar besser eingeweihter Alternativsender, «Radio Eisberg», ist dabei - sorgsam eine kollektive Psychose verhindern wollen, reift in Alfred M. ein Entschluss. Er wird sein Schweigen brechen, «die Seite wechseln», wie es in «Vollmond» heissen wird. Am Montagmorgen enttarnt er sich und sein Bespitzelungssystem im Konzern. - Sein Bürohaus fällt in Schutt und Asche.

«Grauzone» hat etwas Gespenstisches, weil der Film genau das depressive Klima des Landes Schweiz beschreibt, die Anpassung der schweigenden Mehrheit und das wachsende schlechte Gewissen deswegen, die untertänige Sprachlosigkeit, in atmosphärisch dichten schwarzweissen Bildern und verwirrend vielschichtigen Tönen. Die real existierende schweizerische Gesellschaft sollte das Gespür von «Grauzone» bestätigen: mit der Jugendbewegung von 1980 und dem Staatssicherheit-Skandal, der in den späten 1980er Jahren als «Fichenaffäre» ans Licht gekommen ist und die «älteste Demokratie» kompromittiert hat.
Martin Schaub 1979


Grauzone - ein Film am Wendepunkt

Von André Cornand in «La Revue du Cinéma, Paris»

Grauzone ist ein Film am Wendepunkt, ein epochemachender Film in der Filmgeschichte, der es verdiente, dass in einer Fachzeitschrift ausführlich auf ihn eingegangen wird. 1978 gedreht, wurde Grauzone 1979 an den Festivals von Locarno und Orleans präsentiert. Nachdem dieser Film dann anfangs Februar 1980 im Rahmen der von Pro Helvetia in Paris (an der «Porte de la Suisse») organisierten Veranstaltungen sozusagen als Geheimtyp -- zur Vorführung gelangt ist, findet er nun endlich auch in Frankreich einen kommerziellen Vertrieb. Im Verleih bei «Hors-Champ Diffusion» ist er momentan im Forum des Halles programmiert und es wäre ungerecht und bedauerlich, wenn die Nutzung des Alleinvertriebsrechtes sich darauf beschränken würde, dass nur einige Pariser Cinéphile in den Genuss dieses Films kämen. Denn ich wiederhole: «Grauzone» ist ebenso bedeutend wie die ersten Godards. Diesen Vergleich stelle ich nicht an, weil es sich hier ebenfalls um einen Schweizer Filmemacher handelt, oder weil man dabei an Godards «Alphaville» denken könnte, sondern vielmehr weil Grauzone ein absolut neuartiger Film ist von einem Cineasten mit aussergewöhnlichem Talent. Natürlich ist Fredi M. Murer in seinem Land als eine der Leitfiguren des Deutschschweizer Filmschaffens anerkannt, aber es wird Zeit, dass man ihn bei uns entdeckt. Seit 1962 hat er an die zehn kürzere Dokumentar und Experimentalfilme realisiert und 1974 seinen ersten langen Film «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind», der 1975 in Locarno den Preis der Internationalen Filmkritik erhielt.

Richard Dindo - ebenfalls ein Deutschschweizer Cineast und Filmkritiker) charakterisierte Murers Filmschaffen mit «dokumentarischer Fiktion». Man kann diesen Ausdruck nur übernehmen und zu erklären versuchen.

Schon zu Beginn von Grauzone – ein Schwarz-Weiss-Film in einem Schwärz und einem Weiss von ausserordentlicher Wirkungskraft –wird ein junges Ehepaar vorgestellt, das in einer modernen Grossüberbauung in Zürich lebt; eine Erzählstimme (Off-Stimme) gibt Auskunft über ihn, über sie, ihr gemeinsames Leben, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart. Man hat tatsächlich den Eindruck, es handle sich um eine Direktreportage, eine Fernsehsendung (mit dokumentarischem Charakter). Und dieser Eindruck dauert an, während man allmählich, unmerklich in eine mysteriöse, beunruhigende und phantastische Atmosphäre übergleitet. Aber dieses Phantastische deckt sich mit der Realität, dem Alltäglichen: etwas, das so viele Schriftsteller, Poeten, Filmer zu übers setzen, zu erreichen versucht haben.

Der Hauptdarsteller im Film, Alfred M. - er i trägt denselben Vornamen wie der Autor ist ein begeisterter Tonjäger. Er hat, im Konzern, wo er arbeitet, völlig geheim - selbst seine Frau ist in Unkenntnis darüber - zum «Sicherheitsdienst» übergewechselt. An einem Freitagabend wird er zufällig Zeuge einer Entführung. Stille. Auf dem Heimweg lässt er sich beim Coiffeur den Bart schneiden, als wolle er seine Persönlichkeit ändern. Dort hört man am Radio von einer anonymen Anzeige: «eine mysteriöse Epidemie» würde sich seit dem 21. März 1976 im ganzen Land verbreiten.

Von diesem Moment an entwickelt sich zwischen den Ehepartnern und in der ganzen Stadt ein Klima der Verunsicherung, der Spionage, der Überwachung. Immer unter dem Aspekt einer Chronik des Alltags – man verlässt die greifbare Wirklichkeit nie – taucht der Film unmerklich in eine Atmosphäre der Angst, der Unruhe, der Beklemmung ein.

Man fühlt klar, dass dieses Klima heute in Zürich und Umgebung heftiger als anderswo regiert, und Grauzone ist in diesem Sinn ein soziologischer Dokumentarfilm. Aber der durch den Film auferlegte Zauber bedarf der Identifizierung. Diese absurde Welt der Anonymität, der Einsamkeit und Angst ist diejenige unserer modernen Städte, unserer mechanisierten, desinfizierten, zivilisierten, deshumanisierten Kultur. Wenn auch bei uns noch keine Grauzonen-Atmosphäre herrscht, steht doch ihr Übergriff überall auf der Welt unmittelbar bevor. Der Film wird somit zur apokalyptischen Parabel von Gegenwart und Zukunft. Währenddessen nimmt die Chronik ihren Fortgang. Im Laufe dieses langen Wochenendes - der Film spielt von Freitag 17 Uhr bis Montag 12.30 Uhr - begegnet Alfred einigen Individuen, einigen «Fällen», die sich in dieser Grauzone wie surrealistische Elemente bewegen. Sie sind es, die sich gegen die «Epidemie» sperren, ihr widerstehen. Behandelt als Verrückte, als Schwärmer in dieser verrückten Welt, sind sie im Grunde genommen die Weisen. Da gibt es zum Beispiel einen Taxifahrer, der seine Wohnung zur «autonomen Republik» erklärt hat, einen «Instinktforscher, der über Technologie und Nekrophilie spricht, einen Redner, der seine Angst vor der Angst von einem kleinen Boot aus durchs Megaphon zum Publikum auf dem Festland schreit. Montagmorgen wird es einen Unangepassten mehr in diesem absurden Universum geben. Aufgrund der anonymen Bekanntmachung bestehen für den von der Epidemie Befallenen zwei Möglichkeiten: «Entweder er tut etwas Freiwilliges, oder er erwacht nicht mehr aus dem traumlosen Schlaf». Alfred wählt das erstere. Er enthüllt seinen Arbeitskollegen die Abhöranlage, die er selbst im ganzen Konzern eingerichtet hat. Das Tonband mit der Abschiedsrede an die Adresse seines Arbeitgebers endet mit der Umkehrung des bei der ersten Mondlandung bekanntgewordenen Satzes: «Ein gigantischer Schritt für mich, aber ein kleiner für die Menschheit.»

Murers dunkle Vision - oder Audiovision der modernen Zeit und seine prophetische Angst vor der Zukunft lässt den Weg zur Utopie offen. Man kann der «Epideme» widerstehen: die Marginalität ist möglich, scheint er uns zu sagen. Aber die letzten Worte Alfreds enthalten zugleich Zweifel über die Reichweite und Wirksamkeit einer individuellen Revolte.

 
 

Credits/Cast

Buch und Regie: Fredi M. Murer
Kamera: Hans Liechti
Schnitt: Rainer M. Trinkler
Ton: Florian Eidenbenz
Musik: Beo Oertli, Mario Beretta


Weltpremiere: 1979
Originalversion: Schweizerdeutsch, de/fr/en
Dauer: 101 min
Originalversion: Swarz-Weiss, 35 mm
Format: DCP, 5.1
Produktion: Nemo Film
Format: DCP (UT: DE, EN, FR)
Verleih: FMM Film Verleih

Restauriert von der Cinémathèque Suisse und Cinegrell mit Unterstützung von Memoriav, in Zusammenarbeit mit Fredi M. Murer.

Darstellende:
Olga Piazza
Walo Lüönd
Janet Haufler
Mathias Gnädinger
Ernst Stiefel
Michael Massen
Giovanni Früh
Peter Siegenthaler

 

Festivals (Auswahl)

Locarno 72. Locarno Film Festival, 2019
Fünf-Seen-Land 6. Fünf Seen Filmfestival, 2012
Neuchâtel 10. Neuchâtel International Fantastic Film Festival, 2010

 

Storyboard

 

Werkfotos

 

Filmplakat

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