Ich habe mich oft gefragt, wie meine Filmografie aussehen würde, wenn ich meine Kindheit und Jugend nicht in der Innerschweiz verbracht hätte. Einige meiner Filme haben nachweislich ziemlich lange Wurzeln, die bis in meine Kindheit und sogar zu meinen Ahnen zurückreichen. Jedenfalls haben einige Personen, als ich noch hellgrün hinter den Ohren war, schon sehr aktiv an meinem Menschwerdungsprozess mitgewirkt. Hätte ich als Person wie ein Film einen Nachspann, in dem alle Mitwirkenden an meiner späteren Filmerkarriere aufgeführt sind, wäre dieser ziemlich lang. Ich bin jedenfalls froh, muss ich mein Preisgeld nicht mit allen teilen und beschränke mich hier auf meine frühesten Einflüsse.

Meine Mutter, die Damenschneiderin und leidenschaftliche Leserin war, hat mir im hohen Alter von über 90 Jahren geraten, endlich einmal einen Romane von ihr zu verfilmen; sie wolle nicht erst nach ihrem Tod berühmt werden. Die versöhnlichste Form von Intelligenz ist für mich Humor und Selbstironie. Falls ihr Mutterwitz auf mich abgefärbt haben sollte, danke ich ihr. 

Der Rat meines Vaters vor dem Eintritt in die Schule lautete: «Was man weiss, muss man nicht glauben.» Ohne es zu merken, habe ich sein Credo auch zu meinem gemacht. Als Schreiner hat er Möbel gemacht, wie Dichter Gedichte, und wenn Robert Walser sagte, dass Poesie sehr viel mit Genauigkeit zu tun habe, so will ich meinem Vater nicht poetische Möbel unterstellen, aber meinen Hang zur Genauigkeit habe ich wohl von ihm geerbt. 

Meine fünf Geschwister haben mir, dem Nachzügler, beim Teilen immer die grössere Hälfte gegeben. Ihnen verdanke ich einerseits meine altruistische Seite und andererseits meine Untugend, dass ich nie mit der Hälfte zufrieden bin. 

Meiner Grossmutter, die bei ihren Hausarbeiten Schubertlieder summte, hat mich noch vor dem Schuleintritt Geld zählen gelernt und Goethes «Erlkönig» und Schillers «Taucher» für mich so oft rezitiert, dass ich sie auswendig aufsagen konnte. Ihr verdanke ich mein entspanntes Verhältnis zu Geld und Geist.

Die Schule habe ich aus Gründen der Unter- und Überforderung als unwiederbringlichen Zeitverlust empfunden. Zweiteres hatte vor allem mit meinem nicht zu gewinnenden Krieg gegen die Orthographie zu tun und Ersteres damit, dass es für alles, was ich gut konnte, keine Schulnoten gab.

Fragmente aus meiner Dankesrede für den Innerschweizer Kulturpreis 1997

 

Biografie

Fredi M. Murer * 1. Oktober 1940 in Beckenried/NW
Jugend und Schulzeit in Altdorf, Uri
1958-62 Fachklasse für Fotographie, Schule für Gestaltung, Zürich
1960 Erweckungserlebnis als Filmemacher in der Ausstellung «Der Film» im Museum für Gestaltung, Zürich
1964 EXPO Lausanne, Bildgestaltung für den Pavillon «Schulwesen und Erziehung» von Max Bill und Josef Müller Brockmann
1964 Fotobuch «Jugend 13 bis 20»
Besuche in den Studio-Kinos in Zürich, der Cinémathèque in Paris sowie am Festival du cinéma expérimental da Knooke-le-Zoute ersetzen die Filmschule
Seit 1965 freischaffender Filmemacher und Produzent in Zürich
1967/69 Vater von zwei Töchtern
1992-96 Präsident der Association suisse des réalisateurs de film - ARF/FDS
1995 Kunstpreis der Stadt Zürich
1997 Innerschweizer Kulturpreis
2008 Gründungspräsident der Schweizer Filmakademie
Längere Aufenthalte in England, USA, Island, Indien und Japan

Filmografie

1961 Der gefallene Turm von Pisa
1962 Marcel – Tag eines Elfjährigen
1964 Mitarbeit am Expo-Pavillon «Schulwesen und Erziehung»
1965 Pazifik – oder die Zufriedenen
1965 Sylvan
1966 Chicorée – mit Urban Gwerder
1966 Bernhard Luginbühl
1967 Pavillon Le Corbusier
1967 High and Heimkiller, Kurzfilm
1968 Vision of a Blind Man
1968 Swiss Made – 2069
1969  Sad-Is-Fiction – mit Alex Sadkowsky
1972   Passagen – mit HR Giger
1973   Christopher und Alexander
1975 Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind
1979 Grauzone
1982 A New Face of Debbie Harry
1985 Höhenfeuer
1987 Sehen mit anderen Augen
1987 Jenatsch (Darsteller: Archivar Filmwochenschau)
1990   Der grüne Berg
1991  Die verborgene Fiktion im Dokumentarfilm (Kompilationsfilm)
1998   Vollmond
2004 Downtown Switzerland
2006 Vitus
2014 Liebe und Zufall

Auszeichnungen (Auswahl)

1985 Locarno Film Festival Goldener Leopard für “Höhenfeuer”
1998 Montréal World Film Festival Grand Prix des Amériques für “Vollmond”,
1995 Kunstpreis der Stadt Zürich
1997 Innerschweizer Kulturpreis Bänniger Stiftung
2006 Chicago Film Festival Audience Choice Award Best Feature für “Vitus”,
2006 Schweizer Filmpreis Bester Spielfilm “Vitus”
2006 Cinema Festival Internazionale del Film di Roma Publikumspreis
2006 Berlin, Internationale Filmfestspiele Berlin Berlinale Special
2006 Los Angeles AFI Fest Audience Award
2008 Pyongyang International Film Festival Special Screening Prize
2008 Ascunción, Festival Internacional de Cine Arte & Cultura Publikumspreis
2015 «Höhenfeuer» wird in zwei Umfragen zum Besten Schweizer Film aller Zeiten erkoren
2019 Pardo alla carriera Locarno Film Festival

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Den Sinnen vertrauen


Biografische Notizen von Walter Ruggle

Kleine Rückblende aufs Leben des leidenschaftlichen Erzählers und scharfsinnigen Wahrnehmers.
Ob man Fredi Murer anruft, ob man ihn auf der Strasse antrifft oder daheim in seiner Altstadtwohnung besucht: Es sprudelt aus ihm heraus, ein Stichwort ergibt eine Geschichte, ein Gedankengang treibt ein Dutzend Äste und Blüten. Es zeigt sich einmal mehr: Wer im Leben etwas zu erzählen hat, der hat auch Geschichten bereit, egal, wo er ansetzt. Murers Geschichten sind Bildergeschichten, auch dann, wenn er sie mündlich erzählt. Die Filmsequenzen sind da, auch wenn die meisten davon nie gedreht werden können. Im Lauf der Jahre kommt die eine oder andere doch auch auf der Leinwand zum Vorschein, als Andeutung vielleicht, als Detail. Die Fantasie nährt sich aus der Realität und öffnet dieser unbegrenzte Weiten. > weiter

Fotos

 

Fredi M. Murer und der junge Schweizer Film

Von Alexander J. Seiler, 1968

Noch vor zwei Jahren war Fredi Melchior Murer so etwas wie eine lokale Zürcher Zukunftslegende. Eingeweihte kannten seine Photos, seine 8-mm-Filme, wussten, dass er ein grosses 16-mm-Opus in Arbeit hatte und dass es eine ganze Gruppe junger Graphiker, Photographen und Auch-Künstler gab, die auf ihn schworen, mehr: die auf ihren «King Melchior of Cinema» als charismatische Figur eines neuen Filmschaffens eingeschworen waren. Dann kamen im Januar 1966 die ersten Solothurner Filmtage. «Pazifik oder die Zufriedenen», mit Ach und Krach termingerecht fertig geworden und von der Solothurner Auswahlkommission nur dank des energischen Einspruchs einer nicht stimmberechtigten Gattin angenommen, «Pazifik», Murers einstündiges Epos vom Hause Plattenstrasse 47 und dessen Bewohnern, wurde zur eigentlichen Entdeckung dieses ersten, noch reichlich konfusen und gelegentlich tumultuösen Schweizer Jungfilmtreffens. 


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Für das lebendige Konkrete, wider die Abstraktion

Zu Fredi Murers Dokumentarfilmen aus der Innerschweiz 
Von Alexander J. Seiler

1 Als seine «konservativen» Filme bezeichnet Fredi Melchior Murer die beiden grossen, im Abstand von sechzehn Jahren entstandenen dokumentarischen Berichte aus seiner engeren Heimat, der Inner- oder sogenannten Urschweiz. «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974) stellt Leben und 

Lebensbedingungen der Bergbauern in drei verschiedenen Tälern des Kantons Uri dar, in dem Murer vom sechsten Altersjahr aufwuchs. «Der grüne Berg» (1990) schildert den Widerstand, den das «nationale» Projekt eines Endlagers für radioaktive Abfälle bei der betroffenen Bevölkerung der Gemeinde Wolfenschiessen in Murers Heimatkanton Nidwalden.

«Konservativ» oder nicht: tatsächlich haben die beiden Filme weit mehr gemeinsam als nur die Region, aus der sie stammen.
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«Der Zauberer kehrt noch einmal auf die Piazza Grande zurück»

NZZ, Urs Bühler, 07.08.2019

Mit «Höhenfeuer» schuf er eine Ikone des Schweizer Filmschaffens. Nun steht Fredi M. Murer noch einmal im Rampenlicht. Ein Besuch in seinem Zürcher Turmzimmer.

 

CINEMAsuisse - Special

SRF Filmportrait
Fredi M. Murer - Regisseur, Drehbuchautor, Erzähler und Zeichner

Fredi Melchior Murers Werke haben die hiesige Filmlandschaft massgeblich mitgeprägt und ihn weit über die Landesgrenze hinaus bekannt gemacht.
Autor: Béla Batthyany / 07.07.2012