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Liebe und Zufall - 2014
Eigentlich haben sie viel erlebt
Man ist ja zuweilen irritiert über die 68er-Regisseure wie Xavier Koller oder Richard Dindo, die einst mit zornig engagiertem Autorenkino aufrüttelten und nun bürgerlich-gediegene Filme realisieren. Bei Fredi M. Murer liegt der Fall etwas anders. Zwar erhielt auch sein «Vitus» (2006) das Attribut «cinema du vieux monsieur», aber der wunderbare Film ist weit mehr als das. Er kam einem in den letzten Jahren immer wieder in den Sinn. Denn Murer fabulierte darin nicht nur von einem hochbegabten Knirps, er reflektierte auch die Folgen der Digitalisierung, die das Verhältnis zwischen den Generationen auf den Kopf stellte: Nicht mehr der Grossvater erklärt dem Enkel die Weit, sondern umgekehrt. Wir lernten: Es gibt inzwischen digitale und analoge Menschen.
In «Liebe & Zufall» wendet sich Murer nun den Analogen zu, die wohl eher die Seinen sind als die Digitalen. Er betritt das Chabrol-Territorium des wohlhabenden Bürgertums. Im Mittelpunkt steht das kinderlose Ehepaar Elise (Sibylle Brunner) und Paul (Werner Rehm). Es lebt am Zürichberg in einer Villa voller Bücher und Papier, der weisse Apple-Computer wirkt darin wie ein Fremdkörper aus einem Science-Fiction-Film. Die 76-jährige Elise liest am Morgen die Zeitung und wird durch den eigenen Jahrgang in den Todesanzeigen an ihre Endlichkeit erinnerte der 79-jährige Paul kümmert sich um seinen Maserati. Es sieht so aus, als würden die beiden einen geruhsamen Lebensabend verbringen, doch dann schlägt das Schicksal nochmals zu. Ihre italienische Haushälterin wird von einem Theaterregisseur für die Bühne entdeckt. Paul fährt im Regen einen fremden Mann an, der sich als der Theaterregisseur herausstellt, und Elise küsst im Tierspital den jungen Arzt, weil dieser sie an eine Jugendliebe erinnert.
Ist das alles nur Zufall oder nicht doch Vorsehung? Ausgehend von solchen Fragen entspinnt Murer ein so amüsantes wie herzerwärmendes Lustspiel, bei dem der
Zuschauer stets mehr weiss als die Figuren. Inspiriert dazu wurde er von seiner eigenen Mutter. Sie hat an ihrem 90. Geburtstag den sechs Kindern vier Romane und ihre Memoiren in die Hand gedrückt, die sie, ohne jemandem davon zu erzählen, in ihren Siebzigern verfasst hatte. Eines der Manuskripte trug den Titel «Lebe & Zufall», und die Memoiren waren mit «Eigentlich habe ich nichts erlebt» überschrieben. Dass Letzteres nicht zutraf, merkte Murer, als er einen der Romane las - und «rote Ohren» bekam, wie er im Presseheft schreibt. Er erfuhr, dass seine Mutter einmal bei einem Arztbesuch in Ohnmacht gefallen war, weil sie glaubte, ihrer grossen Jugendliebe gegenüberzustehen. Das ist natürlich ganz grosses Tennis, das Murer zu einer Comedie humaine über Leben-Aufarbeiten, Endlich-offene-Rechnungen-Begleichen, Vermächtnis-Regeln und Abschiednehmen inspirierte. Sein Film handelt darüber hinaus aber auch noch vom Glück, ein künstlerisches Werk zu schöpfen.
Man assoziiert Fredi M. Murer eher mit kühlem Realismus, wie er «Grauzone» (1979) oder «Höhenfeuer» (1985) prägt. Doch Murer kann, wie er schon in «Vitus» bewies, auch warme Filme schaffen. Das hat nicht nur mit Altersmilde zu tun, sondern vor allem damit, dass er Figuren liebevoll zu zeichnen und ideal zu besetzen vermag. Man spürt in «Liebe & Zufall», dass er sämtliche Figuren gern hat, am meisten die verschrobenen: den impulsiven, herrlich breites Züritüütsch sprechenden Theaterregisseur und die neapolitanische Bedienstete, die ihrem Talent auf der Bühne schamlos freien Lauf lässt.
Der 74-jährige Fredi M. Murer sagt, «Liebe & Zufall» sei sein letzter Film. Man müsste schon Tomaten auf den Augen haben, um nicht zu sehen, dass der in gemächlichem Erzähltempo gehaltene Film ums Abtreten kreist. Es gibt eine unsentimentale und doch anrührende Szene, in der ein Seekind im Abendlicht davonrudert und so auf den Tod verweist. Murer hat «Liebe & Zufall» auch als Liebeserklärung an die Stadt Zürich angelegt, in der er seit 56 Jahren zu Hause ist. Es kommen Orte vor, die ihm wohl Heimat bedeuten: ein Antiquariat, ein Kleintheater, das Niederdorf oder das Filmpodium - der Prime Tower ist immerhin einen Besuch wert. Man möchte hoffen, dass es sich der Filmemacher noch anders überlegt mit der Pensionierung. Er hat bestimmt noch etwas zu sagen. Sollte es das tatsächlich gewesen sein, verabschiedet sich einer der ganz Grossen des Schweizer Films mit einem heitermelancholischen Werk, das man nicht sehen sollte, weil es sein letztes ist, sondern weil es mit einer lebensklugen Geschichte unterhält. Der letzte Abschnitt wäre dann der Ort, um Anerkennung zu zollen: Wir haben in Fredi M. Murers Filmen viel erlebt. Sie sind nie spurlos an uns vorübergegangen.
Christian Jungen
Filmstills
Credits/Cast
Regie: Fredi M. Murer
Drehbuch: Fredi M. Murer, Ko-Autor: Rolando Colla
Produzentin: Ruth Waldburger, Elena Pedrazzoli, Fredi M. Murer
Kamera: Pio Corradi
Schnitt: Marina Wernli
Ton: Patrick Storck, Jürg von Allmen
Musik: Marcel Vaid
Ausstattung: Susanne Jauch
Kostüme: Sabine Murer
Licht: Peter Demmer
Casting: Corinna Glaus, Fredi M. Murer
Produktion: Vega Film, Peacock Film, FMM Film, SRF, Teleclub
Dauer: 110 min
Sprache: Schweizerdeutsch
Originalversion: Video 2K
Format: DCP/Dolby 5.1 SRD
Cast:
Sibylle Brunner
Werner Rehm
Ueli Bichsel
Silvana Gargiulo
Andri Schenardi
Monica Gubser
Peter Jecklin
Andreas Krämer
Ueli Jäggi
Sarah Spale
Mona Petri
Mike Müller
Festivals
Fünf-Seen-Land, 9. Fünf Seen Filmfestival, 2015
Solothurn, 50. Solothurner Filmtage, 2015