Filmstills

 

Vollmond «Director’s Cut» – 2022

Interview zu Fredi Murer’s Director's Cut

Vollmond - 1998

Nach «Höhenfeuer» (1985) der erste Spielfilm, der erste abendfüllende Film nach dem Dokumentarfilm «Der grüne Berg» (1990), ist «Vollmond» ein Film erneut von jener Vielschichtigkeit, die der Kenner an Fredi M. Murer, diesem einzigartigen unter den (wenigen) Poeten des Kinos, gewohnt ist. Ein Film wiederum von jener Verfeinerung der formalen Mittel, die es schwer macht, geradewegs in die Mitte dieser Vielschichtigkeit durchzudringen. «Vollmond» ist — zwölf Jahre nach dem letzten Spielfilm und eindeutiger noch als «Höhenfeuer» - die Summe eines Lebens, eines Werkes. Einer fortwährenden Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen und dem politischen Umfeld, der Schweiz, in die der Autor mit all seiner Skepsis eingebunden ist.

Den Inhalt detailliert nachzuerzählen, ist auf knappen Raum nicht möglich Landesweit verschwinden bei Vollmond eines Morgens zwölf Kinder, zehnjährige Buben und Mädchen, spurlos. Entführungen? Das Verschwinden ist um so rätselhafter, als Entführer sich nicht melden. Da kein Lösegeld zu leisten ist, bietet sich auch keine rationale Ausflucht an. Verunsichert sind nicht nur die Eltern. Was vom Verschwinden in der Öffentlichkeit bekannt wird, verunsichert alle, auch die Polizei und vor allem die sensationsgierigen Medien. Nach Wochenfrist erhalten alle Eltern von ihrem Kind denselben orakelhaften Brief mit der Mitteilung, es gehe ihm gut, und mit dem Ultimatum, den weiteren Inhalt bis zum nächsten Vollmond entschlüsselt haben zu müssen. Die Hoffnung bricht endgültig zusammen. Denn die Entschlüsselung gelingt niemandem — so verschwinden beim nächsten Vollmond weitere Kinder; dieses Mal sind es zwölf mal zwölf. Anzunehmen ist, das es so weitergehen wird.

«Vollmond» ist – im Jahre 1997 gedreht – ein Film, der zusammenfasst, wiewohl ein Rest des Unerfassten dessen stehen geblieben ist, was Murer seit 1992 geplant hatte: einen Doppelfilm, der den Arbeitstitel «Zwei Mal die ganze Wahrheit» trug. Dieses Projekt, das die nämliche, in «Vollmond» nun zusammengezogene Geschichte erzählen sollte, aber je aus anderer Sicht (der Erwachsenen zum einen, der Kinder zum anderen), erwies sich leider als undurchführbar. Dies aus Kostengründen, aber auch darum, weil beide Filme zur gleichen Zeit hätten gedreht werden müssen, zur gleichen Zeit fertig geworden wären und parallel zueinander gleichzeitig ins Kino hätten gelangen sollen. Zweimal die ganze Wahrheit: die Wahrheit, gegensätzlich aus der Sicht von da und dort, ein jedes Mal ganz. Dass das Projekt des Doppelfilms nicht zustande gekommen ist, ist ein Verlust für das Kino - nicht nur in der Schweiz. Ein Meisterstück - so lässt sich aus «Vollmond» schliessen - an dialektischer Ergründung der Befindlichkeit unseres Landes (und nicht nur dieses kleinen Landes) hätte stattfinden können.

Nun, «Vollmond» ist so beschaffen, dass Zuschauerinnen und Zuschauer von jenem Projekt des Doppelfilms nichts wissen müssen. Die Metapher, die der Film ist, wird auch verständlich, wenn es die «zweite Wahrheit» - die der Kinder, wie Murer sie hat darstellen wollen - in der geplanten Ausführlichkeit nicht gibt. Sie ist aufzuspüren in «Vollmond» durch die Verunsicherungen und die Plagen der Eltern. Erkennbar nicht nur in den szenischen Visionen, die dem einen Vater, der anderen Mutter vom Aufenthaltsort der verschwundenen Kinder zuteil werden: Aufenthaltsorte abseits des Alltags und seiner gesellschaftlichen Mechanismen. Emmi (Mariebelle Kuhn), die kleine Tochter einer der Frauen, Irene (Lilo Baur), deren Rolle protagonistisch - in der Dramatik ihrer Scheidung und der Lyrik ihrer Affäre mit dem auf die Spuren der Kinder gesetzten Kommissar (Hanspeter Müller) - ausgebaut ist, braucht bloss ihre Hand vor die Augen zu halten, und in der scheinbaren Erblindung durch diese Geste den Blick in die imaginäre Landschaft richten zu können, in welche die Kinder verschwunden sind. Das ist ein Signal, das die Eltern allerdings nicht - oder erst spät und nur vereinzelt wahrzunehmen imstande sind. So furchtlos das Mädchen ist, so wenig furchtsam an des Mädchens Hand ist auch der alte, tatsächlich blinde Klavierspieler (Felix Rellstab): Von Emmi geht auf die Erwachsenen, auf ihre Mutter jedenfalls und auch auf ihre Grosseltern, Beruhigung aus. Emmi ist in ihrer Kindlichkeit Zwischenträgerin von Hoffnung.

Eine ganz reale, realistisch dargestellte Figur ist dieses Mädchen, dennoch Figur in einem metaphorischen Spiel, das Murer eingerichtet hat. Mit allen Spannungen, welche die Dramatik einer vermuteten Entführung von Zehnjährigen haben muss. Mit aller Ironie aber auch, mit welcher der Magister eines solchen Spiels Trivialität vermeidet, die eine derartige Geschichte, würde sie nicht mit poetischer Ironie erzählt, verderben würde. Satirischen Tiefgang erreicht die Ironie dort, wo vom Fernsehen, Metapher hier für den Glauben an die Machbarkeit von allem und jedem die Rede ist. Wird von ihm wirklich erwartet, es könne die Sicht öffnen in die Ferne, in welche die Kinder eingetaucht sind?

Formal ist das Fernsehen andererseits ein Gestaltungsmittel, mit dem Murer in konsequenter dramaturgischer Genauigkeit Handlungs- und Zeitebenen sowie Ereignisabläufe an verschiedenen Orten miteinander verbindet, ineinander verschlingt - ein Spiel der Parallelitäten. Erstmals in einem Film unseres Landes also die Verdoppelung, die Verkoppelung von Realitäten auf verschiedenen Spielebenen, die zweite Wirklichkeit des Bildschirms als Spiegelung der gesellschaftlichen Komplexität im Zeitalter neuer Medien.

Das ist in «Vollmond» ein neues Motiv. Der Realitätsbegriff, von dem Murer bisher stets ausgegangen ist, wird dadurch verwirrender, aber auch erweitert. Der Bildschirm, im Film als zweite Zeitebene eingesetzt, wird schliesslich der Ort, an dem Imagination aufscheinen könnte, ein Fenster zur Surrealität. Als Surrealität, Bestandteil in jedem Film Murers, erscheint hier das Verschwinden der Kinder, die dennoch immer wieder gegenwärtig sind, mit Hinweisen, die rätselhaft von ihnen ausgehen. Mit Hinweisen, die - wie die sonderbaren Verschalungen aus frischgeschnittenen, gekreuzten Holzbrettern - Zugänge anzeigen würden, würden diese Zeichen denn nur verstanden. Statt mit logischen Erklärungen könnten die Eltern, die Erwachsenen, den Ereignissen, der Realität überhaupt, mit jener Phantasie begegnen, von welcher Murer meint, sie könnte die in die Ideologien der Machbarkeit, der Selbstzufriedenheit und Abkapselung im Wohlstand, der Selbstisolierung im Sonderfall und der Selbstberuhigung im technologischen Fortschritt eingesperrte Befindlichkeit unserer Gesellschaft und unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses aufbrechen. Von hier aus wären in einer Kritik, die analytisch vorangeht, von diesem Film die Fäden zu knüpfen in die frühere Zeit von Murers Werk, bis hin zum Erstlingsspielfilm «Pazifik oder die Zufriedenen» (1965), wären die Motive miteinander zu verbinden, die allegorischen Orte aufzusuchen, an denen in Fredi M. Murers Filmen die ihm lieben Menschen - die Selbstverwirklicher, die Verweigerer - ihren Platz haben.
Martin Schlappner, 1998

PS: Die Uraufführung von VOLLMOND war der 13. März 1998
Martin Schlappner, der Autor dieses Textes, starb am 14. März 1998

 

Credits/Cast

Buch und Regie: Fredi M. Murer
Kamera: Pio Corradi
Schnitt: Loredana Cristelli
Musik: Mario Beretta
Ausstattung: Susanne Jauch
Kostüm: Claudia Flütsch, Sabine Murer

Darstellende:
Hanspeter Müller-Drossaart
Lilo Baur
Mariebelle Kuhn
Sara Capretti
Benedict Freitag
Soraya Gomaa
Joseph Scheidegger
Verena Zimmermann
Max Rüdlinger
Yolande Moreau
Shelley Kästner
Michael Neuenschwander
Karin Pfammatter
Oscar Bingisser
Felix Rellstab
Arina Weisshaupt
Angelika Bartsch
Deco Celio
Hanspeter Ulli
Enzo Scanzi
Graciella Rossi
u.v.a

NEU seit Februar 2022: Director’s Cut
Dauer: 115 min
Sprache Schweizerdeutsch
Originalversion: 35 mm
Produktion: T&C Film AG, Pandora Film Produktion, Arena Films
Produzent: Marcel Hoehn
Verleih: FMM Distribution
Rechteinhaber: FMM Film GmbH

Mieten: FMM Distribution
Video on demand: filmingo
Erhältilch: UHD 4K
Audio: OV stereo
UT: de/fr/it

 

Festivals (Auswahl)

Zürich, 12. Zurich Film Festival, 2016
Fünf-Seen-Land, 6. Fünf Seen Filmfestival, 2012
Moskau, 23rd Moscow International Film Festival, 2001
Kobe, Japan, International Independant Film Festival, 2001
9. Film-Kunst-Fest Schwerin, 1999
Montréal, 22e Festival des films du monde, 1998

 

Auszeichnung

Winner Grand Prix, Festival des Films du Monde, Montréal 1998
Bester Film, Schweizer Filmpreis, Nomination, 1999
Publikumspreis, San Jose Film Festival, 1999

 

Storyboard

 

Werkfotos

 

Filmplakat