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HR Giger - Passagen - 1972
Dem Freund und Entwerfer des Extraterrestrikers von «Swissmade – 2069», HR Giger, gilt Fredi Murers Porträtfilm «Passagen», den er erstmals in Zusammenarbeit mit der Autoren-Produzenten-Gruppe Nemo Film AG und dem Westdeutschen Rundfunk produziert. Auch ein gewisser Technologiesprung wird ablesbar: alles Material ist mit Synchronton gedreht, die Tonmischung ist vielschichtiger, auch das Licht ist ausgeglichener, nicht nur wegen der Normen der mitproduzierenden Fernsehanstalt. Als Reverenz an diese beginnt der Film auf einem Bildschirm, erweitert allmählich seinen Horizont und kehrt nach der Expedition in HR Gigers Welt wieder in die Bildröhre zurück: der damalige Bildschirm also wie eine russische Babuschka-Puppe.
Einmal mehr steht bei Fredi Murer nicht das Werk des Künstler HR Giger im Mittelpunkt, sondern seine Welt und Geschichte, zurückreichend bis in die Angstträume des Kindes. Der Film jagt zunächst durch zahlreiche Passagen (im doppelten Wortsinn) von Gigers Biografie und Gegenwart: Geisterbahn, Tunnelfahrt, Gipfelsturm bei Wind und Düsternis. Schliesslich stehen die Filmbilder fast still in enigmatischen Ansichten: Treppenhäuser, Keller, Gänge, Gefässe, Mündungen, Schläuche, Türen.
Zwischen den empfindsamen Bildern finden Erklärungen Platz, Erklärungen von Experten: einem Analytiker, einer Analytikerin, einem Kunstkritiker, einem Gesellschaftshistoriker. Sie bringen für Momente Licht ins Dunkel von Gigers phantastischer Welt. Ihr kommt eine Passage aus Thomas Bernhards «Kalkwerk», das sich der Künstler beim Malen vorlesen lässt, aber eigentlich näher. Darin geht es um Verwirrung, um das, was man aus dem Raum der Verwirrung zurückbringen kann. Auch das Vortragen von Stellen aus Darwins «Entstehung der Arten» erweitern den Horizont.
Um Zeugnisse des Un- und Unterbewussten geht es bei Gigers Kunst. Ihre Gründe und Abgründe kommen am stärksten zum Ausdruck, wenn Murers Kamera die unheimliche Sicherheit zeigt, mit welcher der Maler die Airbrush führt, fast wie ein Medium einerseits, wie ein zäher Arbeiter andererseits. Klärung und Versinken in den Ängsten und Traumata des Künstlers halten sich die Waage.
In die Welt des Künstlers einbezogen
Der Film über den Zürcher Maler HR Giger beginnt auf dem Fernsehschirm in seinem Atelier; darauf folgen ein ruhiger Rundschwenk im Raum ein langsamer Zoom auf die Bildröhre zu. Mit sanfter Gewalt wird der Zuschauer in diese Bildröhre hineingezogen und gestossen. Und er verläst sie erst nach 50 Minuten wieder. Im ersten Drittel von «Passagen» entfesselt Murer seine ganze bildnerische Phantasie in einer subjektiven Bildfolge: Der Zuschauer wird in den Wagen einer Geisterbahn gepresst, fährt auf gespenstische Unwesen zu und auf HR Gigers Bilder; nach dieser Fahrt schaut er «entgeistert» in die Gesichter von Jungen, die draussen vor der Kasse warten; und schon sitzt er neben Giger im Auto und fährt in dunkle Tunnels und in die Tunnelbilder aus dem Jahr 1967 hinein; darauf stürzt er sich mit dem Maler über eine steile Steinhalde gegen einen Berggipfel hinauf, Wolkenfetzen, Wind, Fabelwesen schwirren ihm um den Kopf.
Solche engen Passagen - durchaus schon im doppelten Wortsinn zu verstehen - gibt es einige, und über die Dimensionen, die darin die Musik erschliesst, wäre noch vieles zu sagen. Der Film beschleunigt sich, taucht ein, der Puls fliegt. Dann aber, und das fast noch häufiger, scheint die Zeit fixiert zu werden. Die Analyse des Grunderlebnisses von HR Giger und des Zuchauers im dunklen Saal wird Schritt um Schritt vorangetrieben: Gedanken gegen die Angst. Jolande Jacobi, die Psychoanalytikerin, sagt, dass Bilder Ängste bannen können; der Genetiker Rolf Nöthiger stellt Gigers Mutationsbilder auf den Hintergrund von tatsachlich festgestellten Mutationen, auf den Hintergrund der atomaren Bedrohung; vier Kunstkritiker beschreiben Bilder Gigers und ziehen das Ungeheure mit Worten an ihr und an unser Licht des Verstandes.
Treppenhäuser, Keller, unterirdische Gänge, Gefässe, Mündungen, Schläuche, Tunnels, Türen, Abflussrohre, Löcher, Gigers Motive umfangen den Zuschauer; er geht im dunkeln und ist dankbar um jeden noch so dünnen Lichtstrahl, den ihm der Kommentar und die Kommentatoren in die Bildröhre schicken. Und am Schluss? Ist man verängstigt, gepresst und klein, oder ist man frei, aufgeklärt und über der Sache? Das wesentliche Gelingen dieses Films ist die hergestellte Ambivalenz von Einsicht und Erschrecken, von Licht und Dunkel, von «Wissen um» und Geheimnis. Thomas Bernhard kommt in «Passagen» zum Wort. Giger lässt sich von Li Tobler, seiner Lebenspartnerin, jene Stelle aus dem «Kalkwerk» vorlesen, an der von der Verwirrung in den Köpfen, in allen Köpfen, die Rede ist und von der Seltenheit eines adäquaten Ausdrucks dieser Verwirrung, vom weisen Papier, das die meisten vor sich haben. HR Giger wird verständlich als einer, der diese Verwirrung die er mit uns teilt, zu Papier bringen kann.
Künstlerfilme sind oft deshalb unverbindlich, weil sich die Filmer an Künstler anhängen und in sie hineinkriechen. Im besten Fall resultiert im Zuschauer eine Art «subjektives Verständnis» einer Kunst, das Aufgehobensein in einer Kunstwelt, die man nicht in Worte zu fassen vermag. In Murers «Passagen» wird solches Verständnis ebenfalls provoziert, aber darüber hinaus wird der Betrachter in die Welt des Künstlers einbezogen. Den Eindrücken von «Passagen» entzieht man sich nicht mit Bewunderung des Porträtierten oder des Porträtisten. «Passagen» sperrt den Zuschauer in einen Raum ein, in dem er erst allmählich die Umrisse seiner eigenen Umgebung und seiner Zeit erkennt.
Martin Schaub, 1972
Von Mal zu Mal neu zu finden
Für seinen Film «Passagen», eine Studie über den phantastischen Realismus des Malers HR Giger, hat Fredi Murer in Mannheim den Sonderpreis für den besten Fernsehfilm erhalten. Man mag von Gigers Kunst hallen, was man will, mag sie faszinierend oder abstossend, tiefsinnig oder pervers finden, der Film über ihn verdient Interesse. Schon mit seiner früheren Arbeit über den Plastiker Bernhard Luginbühl hatte Murer versucht, die ausgefahrenen Geleise herkömmlicher Künstlerfilme zu verlassen; der Giger-Film ist abermals ein Versuch, neue Wege zu gehen, die Formel jedoch ist eine völlig andere als bei Luginbühl. Hatte er diesen in seiner Emmentaler Welt gleichsam als ein Teil von ihr dargestellt, so zeigt er Giger als Mittelpunkt eines weitverzweigten Netzes von Bezügen: zu Krieg und atomarer Vernichtung, Vermassung und Problemen wie Genetik und Ökologie auf der einen, der eigenen Kindheit, ihren Zwangen und Ängsten, der Welt der Träume und des Unterbewussten auf der anderen Seite. Ausschnitte aus Filmberichten der Tagesschau, naturwissenschaftliche Zitate und biologische Exkurse wurden ebenso in den Film einbezogen wie Gänge durch die Churer Altstadt, wo Giger aufgewachsen ist, und Ausführungen über die Funktion des Traumes; sie zeigen das gedankliche Fundament, das Gigers Bildern zugrunde liegt. Murer überläst nichts dem beschreibenden Kommentar. Was er aussagen will, das zeigt er auch, das setzt er um ins Bild, das hier zum Beleg der Interpretation wird. So treten die üblichen Elemente von Künstlerportäts, wie der Gang durchs Atelier, der Künstler bei der Arbeit, das Werk in Nahaufnahmen usw., zurück zugunsten der komplexen Darstellung jener Wirklichkeit, aus der die Kunst ihre Stoffe bezieht.
Murer hat versucht, diese Wirklichkeit und ihre künstlerische Umsetzung im Bild festzuhalten, er hat versucht, Assoziationen nachzuweisen, und ist den Örtlichkeiten und Situationen nachgegangen, an denen Gigers Phantasie sich entzündet hat. Das Werk selbst lässt er erst gegen Ende des Films zu Wort kommen; er zeigt es und lässt es gleichzeitig von Kunstkritikerinnen und Kunsthistorker beschreiben: von Margit Staber, Fritz Billeter, Hans Christoph von Tavel und Dorothea Christ. Murers Giger-Film ist, so nachahmenswert er auch scheinen mag, kein Modell; er macht vielmehr bewusst, dass die Formel für Künstlerportraits diktiert von ihrem Gegenstand, von Mal zu Mal neu zu finden ist.
K.0. NZZ 19. Oktober 1972
PASSAGEN - Prologtext
Ist der Künstler ein besonderes Individuum, das nach eigenen Gesetzen lebt und schafft, oder ist er ein Produkt seiner Gesellschaft, seiner Klasse?
Ist er ein Vorläufer, der schon heute den autonomen Menschen verkörpert, oder ist er ein Gefangener seiner privaten Phantasie und Zwänge? Ist er Hofnarr, Hinweiser, Prophet oder Anpassungsversager?
Ist er entbehrlich oder notwendig? Soll er Idealordnungen entwerfen oder alles in Frage stellen, auch sich selber?
Erlebt der Künstler tiefer, intensiver als der Alltagsmensch?
Kann er seine Ängste und Hoffnungen modellhaft darstellen und sichtbar machen, und sind diese auch unsere Ängste und Hoffnungen?
Verändert der Künstler die Welt?
Verändert er sie indem er Kunst macht, oder indem er Politik macht - und macht er schon Politik, indem er gestaltet?
Hat er überhaupt einen gesellschaftlichen Auftrag, oder ist er nur Seismograph, der den sogenannten Zeitgeist registriert?
Credits/Cast
Maler: HR Giger
Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Fredi M. Murer
Ton: Benjamin Lehmann
Recherchen: Hans-Ulrich Jordi
Sprache: Deutsch
Sprachversionen: FR Voice-over, EN Voice-over
Dauer: 45 min
Originalversion: Farbe, 16 mm
Produktion: Nemo Film GmbH
Verleih: FMM Film Verleih
Fachliche Mitarbeit: Dr. C. Mainberger. Segius Golowin, Mathias Thurneysen, Dr. V. E. Gschlacht, Dr. Ralf Binswanger, Dr. P. Althaus, Dr. Jean-Christoph Ammann
Texte: Dr. Konrad Farner, Dr. Fritz Billeter
Bildbeschreibungen: Margit Staber, Fritz Billeter, Dorothea Christ, Hans Christoph von Tavel
Statements:
Dr. Jolanda Jacobi (Psychologin)
Prof. Dr. Rolf Nötiger (Genetiker)
Dr. med. Berthold Rotschild (Zeitgenosse)
Sprecher: Paul Weibel, Li Tobler, Chris Schwegler
Auszeichnungen
Filmfestival Mannheim: “Bester Fernsehfilm”