Für das lebendige Konkrete, wider die Abstraktion

Zu Fredi Murers Dokumentarfilmen aus der Innerschweiz
Von Alexander J. Seiler

1 Als seine «konservativen» Filme bezeichnet Fredi Melchior Murer die beiden grossen, im Abstand von sechzehn Jahren entstandenen dokumentarischen Berichte aus seiner engeren Heimat, der Inner- oder sogenannten Urschweiz. «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974) stellt Leben und 

Lebensbedingungen der Bergbauern in drei verschiedenen Tälern des Kantons Uri dar, in dem Murer vom sechsten Altersjahr aufwuchs. «Der grüne Berg» (1990) schildert den Widerstand, den das «nationale» Projekt eines Endlagers für radioaktive Abfälle bei der betroffenen Bevölkerung der Gemeinde Wolfenschiessen in Murers Heimatkanton Nidwalden.

«Konservativ» oder nicht: tatsächlich haben die beiden Filme weit mehr gemeinsam als nur die Region, aus der sie stammen. Das «Wir» im Titel des Urner Films1 kennzeichnet den Gestus beider Werke: nicht «über» eine einst paradigmatische, heute an den Rand der Gesellschaft gedrängte, «unterprivilegierte» und gleichsam exotisch gewordene Bevölkerungsgruppe und deren Lebensform wollen sie berichten, sondern jener «das Wort erteilen» und damit zur Selbstdarstellung verhelfen. «Ein Film mit Urnern» lautet der Untertitel von «Wir Bergler in den Bergen...», «eine filmische Landsgemeinde» jener von «Der grüne Berg». Beide Filme haben keinen Kommentar, genauer: der Autor kommentiert nicht, was er zeigt. «Konservativ» verhalt er sich, indem er sich dar auf beschränkt, in Bild und Ton eine Welt «festzuhalten», die von den Naturgewalten seit jeher, nun aber zusätzlich durch Zivilisation und Hochtechnologie vom Untergang bedroht wird. «Das /st a//es verwüstet worden, da ist jetzt am See/ da ist gar nichts mehr»: das Versinken des Dorfes Göscheneralp in den Fluten des Stausees steht in «Wir Bergler in den Bergen...» sinnbildlich für die Gefährdung einer ganzen Kultur. Fünfzehn Jahre später sind es die «Kinder und Kindeskinder» rund um den «Grünen Berg», deren Zukunft durch die unbekannten Risiken der Endlagerung radioaktiver Abfälle in Frage gestellt wird. 

«Eines der schönsten Schweizer Täler», sagt über das  Göschener Tal der 84jährige Julius Mattli, der sich mit zwei der elf von der Göscheneralp vertriebenen Familien unterhalb der Staumauer neu angesiedelt hat- «so ein Tal kann man nicht verlassen, darum sind wir hier geblieben - wie lange, weiss man nicht.» Und vom Wolfenschiesser Bauern Niederberger sagt fünfzehn Jahre später der Vertreter der «Nationalen Arbeitsgemeinschaft für die Endlagerung radioaktiver Abfälle» (NAGRA), diese könnte jenem für sein direkt beim Eingang des projektierten Sondierstollens gelegenes Heimet (Heimwesen) wohl «Realersatz» anbieten oder ihn «entschädigen», «aber er hat uns gesagt, sein Ort sei Woffenschiessen, hier sei er aufgewachsen und hier wolle er bleiben». Und noch einmal zurück zu «Wir Bergler in den Bergen...»: «Die Berglandwirtschaft sollte erhalten bleiben, koste sie, was sie wolle. Es ist irgendwie doch eines jeden Vorteil, sei es der Tourist oder derjenige, der hier leben muss», sagt einer der «Leute von Bristen». Um Erhaltung eines gefährdeten Bestandes geht es in beiden Filmen, und insofern sind sie beide tatsächlich konservativ. Die Frage ist, was sie darüber hinaus sind. 



2 Nichts in Fredi Murers frühen Filmen deutet darauf hin, dass er sich als Dreissigjähriger den Bergbauern seiner engeren Heimat zuwenden und zugleich der mühseligen Disziplin streng dokumentarischer Arbeit unterziehen wird. Sein Jugendwerk gilt ausnahmslos Aussenseitern, die am Rande der Gesellschaft und in bewusstem Gegensatz zu ihr leben: den jungen Leuten, die eine dem Abbruch geweihte Villa am Fusse des Zürichbergs mit dem dem «kleinen Welttheater» ihrer Lebenskunst erfüllen («Pazifik oder die Zufriedenen»); dem skurrilen Poesie-Schausteller Urban Gwerder («Chicorée»); einem herkulischen Eisenplastiker und seinen Balanceakten zwischen Emmentaler Bauernhaus und kosmopolitischer Avantgardistik («Bernhard Luginbühl»); dem virtuos-exzentrischen Zeichner und Maler Alex Sadkowsky («Sad-is-fiction»). Was diese Filme verbindet, ist ein beschwingtes, über untergründiger Melancholie trotzig-euphorisches Lebensgefühl, das sich noch mehr als in ihren Protagonisten in der leichthändigen, gleichsam tänzerischen, an Freuds «freischwebende Aufmerksamkeit» gemahnenden Kameraführung und Montage manifestiert. 

1967 berichtet Murer im Gespräch von seiner Innerschweizer Kindheit: «von Hühner- und Hasenställen, die er als Aufenthaltsraum dem Schulzimmer vorzog, von  Baumhütten, unterirdischen Gängen, Flossen, Hängeleitern, Fallschirmen, Detektorempfängern, «Kletterrouten» – «in der 5. Klasse stürzte ich auf so einer Kletterroute ab und lag mit einem Schädelbruch drei Monate im Bett. «Ich erzählte meinen Besuchern immer, was ich geträumt hatte, und sie glaubten es mir. Dabei war alles erfunden» Und: «Die Randgebiete des Menschenmöglichen sind mir näher als die Mitte.» (Um diesen Randgebieten näherzukommen, bricht der 17jährige Murer aus der «abgelegenen» Innerschweiz in das «Zentrum» Zürich auf - eine Paradoxie, die sich in seinem späteren Londoner «Exil» umkehren wird.) Was er in seinem Frühwerk «dokumentiert», ist nicht «die Wirklichkeit», sondern in einem genauen Sinn eine Gegenwelt, die es nur insofern gibt, als er sie im Spiegel seiner «unangepassten» Protagonisten entdeckt und «erfindet.» (Und natürlich spiegeln seine Protagonisten vor allem ihn selbst.) Gut zehn Jahre später beschreibt Richard Dindo Murers  (Grauzone» als «dokumentarische Fiktion». Und Murer selbst wählt sich noch einmal zehn Jahre später für seinen Beitrag zu der für die 700-Jahr-Feier «CH 91» der Eidgenossenschaft aus den Beständen des Schweizerischen  Filmarchivs produzierten Kompilationsfilmreihe «Der Schweizer Film» das Thema «Die verborgene Fiktion im Dokumentarfilm» aus. 


3 «Meine ersten paar Filme machte ich als glücklicher Dilettant», schreibt Fredi Murer in seiner Antwort auf die 1977 von Theres Scherer und Bernhard Giger für ihre Dokumentation «Dokumentarfilme aus der Schweiz» gestellten «Neun Fragen an Filmemacher». «Sie gehörten kaum einer Gattung an, es waren einfach Filme. Sie entsprangen direkt meinem Lebensgefühl, weil das Filmen sich als die einzige mir noch verbliebene Sprache erwies, die von der Schule nicht zerstört worden war. Diese Filme entstanden praktisch ohne Geld und ohne Drehbuch, de facto also ohne Bewilligung des Bundes und des Fernsehens und somit auch ohne Selbstzensur. Als mein eigener Produzent und Mäzen orientierte ich mich an der Kunst der Zauberer, die aus eben noch leeren Zylindern wirkliche Tauben hervorholen. Was ich auf diese Weise produzierte, waren keine Dokumentarfilme, aber als Filme vielleicht Dokumente von frühem eigenständigem Leben in der helvetischen Filmlandschaft, als diese noch wüst und leer war, jedenfalls wüst.» 

Aus dem Stand dieser Unschuld wird Murer vertrieben, als er gemeinsam mit Fritz E. Maeder und Yves Yersin den Auftrag erhält, zum l00jährigen Bestehen der Schweizerischen Volksbank eine Episode zu einem dreiteiligen Kinofilm beizutragen, den die Auftraggeberin 1969 im Rahmen ihrer Jubiläumsaktion «Zukunft Schweiz» mit viel publizistischem Aufwand und beträchtlichen Vorschusslorbeeren lanciert. In seinem Beitrag «2069» zu dem Gemeinschaftswerk «Swissmade» kann Murer wohl zum ersten Mal seiner Phantasie ohne die Vorgabe des «Dokumentarischen» freien Lauf lassen, doch findet seine witzig-abgründige, mit François Truffauts «Fahrenheit 
451» entfernt vergleichbare Vision einer gleichgeschalteten Gesellschaft, von der nur ein Rest-Tausendstel unangepasst in eingezäunten Reservaten lebt, wie der Film insgesamt bei Medien und Publikum wenig Anklang. Murer gerät in eine «Identitätskrise» und ergreift «die Flucht aus der Enge» nach London. 



4 Was Fredi Murer sich von London, damals für Künstler und «Zeitgeister» die Metropole Europas, über die Distanz zu Zürich und zur Schweiz hinaus im speziellen erhofft, wissen wir nicht. Zu vermuten ist: neuen Input, das elektrische Knistern der Weltstadt, neue «Randgebiete des Menschenmöglichen». Fest steht: in London erreicht den Flüchtling aus der Schweiz – der dem Film abgeschworen hat und an einem von Surrealismus und Ecriture automatique inspirierten Roman schreibt – die Nachricht vom Tod des Vaters. An dessen Bestattung in Amsteg im Urner Reusstal fallen Murer die vielen Bergbauern auf, die zum letzten Geleit aus den Nebentälern heruntergekommen sind. Er erfährt: Sein Vater war für viele von ihnen als Berater und Briefeschreiber – Schriftsteller im ursprünglichen Wortsinn – im Umgang mit Behörden und Banken tätig gewesen. Der Arzt, der seinen Vater betreut hatte, nimmt ihn nun zu seinen Patientenbesuchen seiner Bergbauernklientel mit und vermittelt ihm die ersten persönlichen Kontakte.

Fest steht weiter: in der «Fremde» London beginnt sich Fredi Murer mit dem zu beschäftigen, was man Heimat nennt: dem Land, in das er geboren wurde und das er verliess – den Leuten, die dort geboren wurden und die dort geblieben sind. Er liest das Buch «Goldener Ring über Uri» vom Urner Landarzt Eduard Renner, eine Sammlung und Deutung von Urner Sagen und Legenden, in denen - wie im Oberwallis - die Geschichten von den «Armen Seelen» eine besondere Rolle spielen. Er erinnert sich an den Film «Kwaidan» (Gespenstergeschichte) des Japaners Masaki Kobayashi und nimmt sich vor, fünf Urner Bergsagen vor ihrem heutigen realen Hintergrund zu verfilmen». Zurück in der Schweiz, beginnt er mit ausgedehnten Recherchen an Ort und Stelle. Erst einmal muss er feststellen, dass die «Armen Seelen» inzwischen nur mehr folkloristische Bedeutung haben – für den grössten Teil der Bevölkerung sind sie zum «Aberglauben» geworden. So geht Murer dazu über, seine Gesprächspartner und -partnerinnen nach ihrem realen Leben, ihrer Arbeit, ihrer Geschichte, ihren Schwierigkeiten, Sorgen, Wünschen zu befragen. Als Sohn seines Vaters geniesst er ihr Vertrauen, sobald er die Frage «Wesse bisch du?» (Wessen Sohn bist du?) beantwortet hat. Ein Film nimmt als «Vision im Hinterkopf» Gestalt an, der die entlegene und exponierte Existenz der Urner Bergbauern, auch ein «Randgebiet des Menschenmöglichen», in ihrer ganzen Breite und Vielfalt ausloten soll. 

5 «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind»: noch vor dem Haupttitel setzt das allmähliche Crescendo eines vielstimmigen Vokalclusters aus dem Introitus von György Ligetis «Requiem» ein und schwillt weiter an unter dem vierteiligen Vorspann: «Ein Film mit Urnern von Fredi M. Murer in 3 Sätzen / 1 Göschener Tal «Es muss eine ganz andere Änderung geben im ganzen Ding da» / 2 Schächentat «Diese Kinder haben bereits die Leidenschaft vom Älplerwesen geerbt» / 3 Maderanertal «Aber wir sagen uns manchmal hier oben, wir sind so Bürger 2. Klasse». Eine lange Fahrt durch die Galerien der Gotthard-Autobahn führt dann im Wechsel von Hell und Dunkel, von Licht und Schatten buchstäblich hinein in den Bezirk, den sich Murer für seine filmische Expedition abgesteckt hat.

Doch zunächst einmal hält ihn kurz vor dem letzten Tunnel-Ausgang - der Gotthard-Autotunnel ist noch im Bau das auf, was die erste Off-Stimme, die des Göschener 
Gemeindepräsidenten Carlo Dittli, als «Nord-Süd-Verkehr» bezeichnet, der «eine Entwicklung und einen Eingriff in die Gemeinde von sich aus beeinflusst» habe. Göschenen sei keine landwirtschaftliche Gemeinde mehr. «Früher gab's noch Bauern im Dorf Göschenen, aber unsere Bauernsame ist am Aussterben. Wir haben allerdings Leute, die verbunden sind mit dieser Gegend, die diese Gegend noch pflegen. Und diese Leute kämpfen, wie übrigens jeder Bergbauer, dass er eine Existenz hat, dass er eine Familie durchs Leben bringen kann.» 

Was der Gemeindepräsident da mit mehr Gleichmut als Bedauern sagt, fasst den «ersten Satz» des Films wie eine vorweggenommene Synopsis zusammen. Er steht fast durchwegs in der Vergangenheitsform: «früher», «noch» und «nicht mehr» sind seine Schlüsselworte. «Frau Tresch, 89. Mutter des letzten Bauern von Göschenen-Dorf», leitet, auf dem Ehebett unter einem Jesusbild sitzend, die Rückschau ein, die bis in die Zeit vor dem Bau der Gotthardbahn reicht, als der Vater der Erzählerin Fuhrhalter war und Waren von Flüelen zur Gotthard-Passhöhe transportierte. Frau Tresch war in ihrer Jugend in Lugano, «im Französischen», in England und Schottland «in Stellung», jetzt beschäftigt ihr Sohn als Knecht einen Türken. Sie sagt: «Früher hatten wir Land, aber jetzt haben wir keines mehr, macht ja nichts, nein nein.» (Unklar bleibt, ob ihr Sohn als Pächter wirtschaftet.) Kein Land hat auch «Senn Karl, 23, Freizeit-Schafzüchter ohne eigenes Land. Das Heu für den Winter kauft er sich mit Bundessubventionen.» Dagegen hat «Senn Anton, 52, Bauer in Abfrutt im Göschener Tal, eigenes Land, keine Nachkommen», denn schon in seiner Jugend war keine junge Frau mehr bereit, die Mühsal eines Bergbauernlebens auf sich zu nehmen. Er wird wohl der letzte sein, der auf dem von den Eltern ererbten Land wirtschaftet, und er ist es, der ausspricht, dass es «eine ganz andere Änderung geben muss im ganzen Ding da». 

Welche? Im Göschener Tal hat es sie schon einmal gegeben: als 1962 der Weiler Göscheneralp im Stausee versank. Wie einschneidend sie war, führt uns Murer vor Augen in einer Reihe von Erinnerungsfotos und mit dem Schwarz-weiss- Filmausschnitt «Göscheneralp 1935, gefilmt vom Bruder des damaligen Kaplan Lorenzi»: da erteilt der Kaplan den Kindern Turnunterricht in der Soutane und mit dem Birett auf dem Kopf, und die Post trifft per Maultier ein. Aber wie nostalgisch der Grundton dieses ersten Satzes von «Wir Bergler in den Bergen...» auch anmuten mag: Murer erlaubt sich selbst und uns keine Sentimentalität. Dem jüngeren Bruder des kinderlosen Anton Senn hat der Bau des Kraftwerks, bei dem er und andere ehemalige Bauern angestellt sind, erst ermöglicht, eine Ehefrau zu finden und eine Familie zu gründen. Und der schon eingangs genannte 84jährige Julius Mattli der mit seinen Kindern und Kindeskindern das Göschener Tal nicht verlassen mochte, sieht die «ganz andere» Änderung - von heute aus betrachtet prophetisch - in den «Grenzen des Wachstums». Während einer seiner Söhne, Dammwärter beim Kraftwerk, mit der Seilbahn im Hohlraum des Damms hinunter an dessen Basis fährt, sagt Mattli im Off: «Ich denke, dass der Wohlstand einst eine Grenze haben, dass, es einst einen Halt geben wird. Und dann wird's wieder möglich sein, dass die Leute in den Bergen bleiben. Immer aufwärts gehen wird's nicht, einmal ist immer ein Stillstand gekommen, und so wird's auch diesmal sein. Es wachsen keine Bäume in den Himmel. Nicht wahr, heute wissen wir ja gar nicht, wie weit der Wohlstand geht noch besser leben und noch besser leben, einmal hört's auf. Und dann wird's hoffentlich langsam bergab gehen, nicht geschwind, sonst gäb's eine Katastrophe.» 

Wie Frau Tresch und wie den Junggesellen Anton Senn zeigt Murer den Patriarchen Mattli, wie er stumm dem Tonband mit seinen eigenen Worten lauscht. Mit dieser Stilfigur umgeht Murer das «Statement» nach Fernsehmanier, er lässt seine Partner – denn aufs genaueste dies sind die Menschen in seinen Dokumentarfilmen – aber auch gleichsam «gegenhören» und so bekräftigen, was sie gesagt haben. Wenn Frau Tresch erzählt, «der Herr» in Schottland sei «Fabrikant vom Whisky» gewesen, und beim Abhören «Scotch Whisky» präzisiert, so gewinnt ihre Erzählung mit einem Mal doppelte Authentizität. Und es ist einer der grossen Momente des Films «Wir Bergler in den Bergen...», wie Julius Mattli, nach dem Gegenhören seiner Prophezeiung von Murer offenbar aufgefordert, diese näher auszuführen, mit leisem Kopfschütteln erwidert: «Nein, das reicht, das ist kurz gesagt, und kurz gesagt ist eigentlich etwas vom Besten.» 

6 Wie der erste «Satz» von «Wir Bergler in den Bergen...» in der Vergangenheit, so steht der zweite in der Gegenwart. Stellvertretend für ihre Nachbarn und deren weit verstreute Häuser und Ställe stellt uns Murer an einem steilen Hang ob Spiringen im Schächentat die Familie Herger - Vater, Mutter, fünf Kinder - und ihr auf 1350 m ü. M. gelegenes Heimet «Butzen» vor und folgt ihr durch den Alpsommer: zunächst auf die Alp «Mettenen», 1700 m ü. M., dann ins «Mettener Butzli», 2000 m ü. M., und schliesslich über den Klausenpass auf die Allmendalp Umerboden, 1350 m ü. M. (Gut 85 Prozent des Bodens im Kanton Uri, so haben wir in einem Zwischenspiel an der Korporationsgemeinde in Altdorf erfahren, gehören den beiden Korporationen Uri und Urseren, sind also Gemeineigentum aller Genossenschafter; für Eigentümer von «Eigenalpen» wie die Familie Herger ist die Benutzung der Allmendalpen auf jährlich vier Wochen beschränkt.) Ende September erfolgt – so ein Einblendtitel – «nach 105 Tagen Alpzeit» die «Rückkehr ins Heimet «Butzen». Während dieser Zeit zügelte die Familie Herger acht Mal.» 

Im Fortschreiten des Jahres und im Wechsel der Witterung entwirft Murer in diesem Mittelteil seines Tryptichons ein breites Gemälde der Alpwirtschaft, ohne dass dieses je ethnografisch wirk. Im Zentrum stehen nicht so sehr die Eltern und ihre Arbeit – das Käsen, die «Metzgete», der herbstliche Viehmarkt in Altdorf – als vielmehr die Kinder, haben sie doch, wie einer der Alpgenossen der Familie Herger sagt, «bereits die Leidenschaft vom Älplerwesen geerbt, so dass keine Nachwuchsprobleme» bestehen. (Dieser Aussage steht die andere gegenüber, dass die Allmendalp Urnerboden früher um die 200 Winterbewohner mit 38 Schulkindern zählte, heute kaum mehr deren 100 mit 11 Schulkindern.) Nicht ein Senn schildert den Verlauf des langen Arbeitstags, sondern ein kleiner «Knecht» von elf oder zwölf Jahren. Und während des in voller Länge «gerufenen» abendlichen Alpsegens, in dem der Film seinen unvergesslichen Höhepunkt, eine eigentliche Klimax, erreicht, schneidet  Murer vom rufenden Sennen und seinem Rundblick über die Landschaft ins Innere der Alphütte, wo Frau Herger ihre Kinder zu Bett bringt. 

Zeigt Murer übrigens die Landschaft im ersten «Satz» mehrfach wie einen Bühnenprospekt als «Ansicht» - eben so, wie sie, gleichsam nach dem Absterben der Alpwirtschaft, der Tourist erlebt -, so erscheint sie im Mittelteil stets als dreidimensionale Lebenswelt, die ergangen, erstiegen, bearbeitet, mit dem Vieh «bestossen» wird. In all seiner Mühsal und Kargheit vollzieht sich das Leben der Bergbauern hier noch einmal intakt, fraglos, in der Zeitdimension der Jahrtausende, nicht der Jahrhunderte oder gar Jahrzehnte. («Schon um 3000 vor Christus war ganz Schächental besiedelt», erzählt der Lokalhistoriker Johann Herger.) Dazu gehören auch das Brauchtum um Geburt und Tod, der Leichenzug, die Taufe – «1200 Kinder und noch einige mehr» hat die Hebamme von Spiringen «gehabt» – das Fasnachtstreiben, die Geschichten von den «Armen Seelen», die –so Johann Herger – «eben keine Sagen» sind.

Ist die Dimension der Zukunft aus dem zweiten «Satz» wie ausgeklammert – was aus der blühenden Kinderschar werden soll, wird gar nicht erst gefragt –, so bricht sie dritten um so drängender auf. Hier, im kargen und schroffen, stets von Steinschlag und Lawinen bedrohten Maderanertal, finden sich wie im Göschener Tal keine Jungbauerinnen mehr, immer mehr Bauern sind gezwungen, allein zu wirtschaften, die fast durchwegs mit Schuldbriefen belasteten Betriebe sind zu klein , die wirtschaftliche Basis zu schmal. Die Frage, wie es weitergehen soll, schwebt allgegenwärtig über den steilen Hängen. Wohl gibt es Alpgenossenschaften seit dem 16. Jahrhundert und vor dem Alpaufzug versammeln sich die Sennen nach altem Brauch und in hergebrachter Tracht und schwören feierlich den Eid der Hirten. Aber die Abrechnung, die der Alpvogt im Herbst vorlegt, ist defizitär - die Kosten für die Sömmerung betragen pro Kuh netto Fr. 253.75 –, und so fahren aus Bristen schon jeden Tag 180-200 Einwohner mit dem Auto hinunter ins Tal, um dort ihr  Auskommen zu finden. Man sollte etwas tun, rationalisieren, sich zusammenschliessen, die «ganz andere Änderung», die Anton Senn zu Beginn des Films im Göschener Tal fordert, wäre hier nicht weniger dringend, aber «es unternimmt niemand etwas richtig Festes, denn es heisst immer, es kommt etwas, es wird schon etwas gemacht, wartet nur...» Und so «sagen wir uns manchmal hier oben, wir sind so Bürger 2. Klasse.» 



7 1979 schrieb Richard Dindo über Fredi Murer: «Ein Werk, das noch nicht ist, was es sein könnte, denn er trägt noch Filme in sich, von denen er bereits das Produkt ist.» Bezogen auf «Wir Bergler in den Bergen...» hat sich dieser erstaunliche Satz bereits durch «Höhenfeuer» bewahrheitet; in noch höherem Mass bestätigt ihn aber 
«Der Grüne Berg». 

Land und Leute um den tektonisch und geologisch aussergewöhnlichen Wellenberg bei Wolfenschiessen hatte Murer bei der Motivsuche und den Dreharbeiten zu «Höhenfeuer» kennengelernt; das «Haus der Grossmutter» lag dem Wellenberg direkt gegenüber. Als sich Ende m1988 die Auseinandersetzungen zwischen der NAGRA und den Nidwaldner und Wolfenschiesser Behörden einerseits und der betroffenen Bevölkerung andererseits zuspitzten, war Murer davon so betroffen, dass er, noch ohne an einen Film zu denken, an den Wochenenden nach Nidwalden zu fahren und mit den Leuten zu reden begann.

Die Diskrepanz zwischen der Kompetenz, die sich die Wolfenschiesser Bäuerinnen und Bauern über die Probleme der Atomenergie und der Endlagerung nuklearer Abfälle angeeignet hatten, und ihrer politischen Ohnmacht erfüllte ihn mit Zorn und Wut, und im Hinblick auf die Eidgenössische Volksabstimmung vom 23. September 1989 über die Volksinitiative «Stopp dem Atomkraftwerkbau» beschloss er, gemeinsam mit dem Kameramann Pio Corradi in eigener Regie einen «Interventionsfilm» von etwa 20 Minuten zu drehen.

Den mehr als zweistündigen Film, der sich aus diesem Plan schliesslich entwickelte, nennt Murer, wie schon eingangs gesagt, «eine filmische Landsgemeinde». Zu Wort kommen, in der besten Tradition der direkten Demokratie, beide Parteien, also auch die Vertreter der NAGRA und der politischen Behörden. Zu Wort kommen aber auch Experten - und der Filmemacher; dieser freilich nicht verbal. Auch «Der grüne Berg» ist ein «kommentarloser» Film, doch macht Murer kein Hehl aus seiner Parteilichkeit. Während er die Vertreter der NAGRA ausschliesslich in ihren Büros, vor Plänen, Grafiken und Modellen auftreten lässt, hat er zusätzlich zu den Interviews mit den betroffenen Bauern und Bäuerinnen von jeder Familie einen «ethnografischen Tagesfilm» gedreht, der aufs sinnlichste vor Augen führt, welche Zerstörung der Bau des geplanten Endlagers nicht nur im physischen Lebensraum dieser Menschen, in der «dreidimensionalen Landschaft» des zweiten (und übrigens auch dritten) «Satzes» von «Wir Bergler in den Bergen...», sondern auch und erst recht in ihrem Lebens und Selbstgefühl, ich zögere nicht zu sagen: in ihren Seelen anrichten würde. Und die Beredtheit der «Befürworter», ihr Gerede von «schwacher» Radioaktivität, 
Gefahrlosigkeit, kurzer Halbwertzeit, nationaler Verpflichtung, «freundeidgenössischer Solidarität», entkräftet Murer, indem er ihrem Wortschwall die stummen Gesichter der Kinder entgegensetzt, deren Zukunft auf dem Spiel steht und denen er seinen Film widmet. 

Weit über den aktuellen Anlass hinaus ist «Der grüne Berg» ein Film über Leben und Tod – oder, genauer gesagt, über die Lebensfeindlichkeit, ja Nekrophilie einer Hochtechnologie, welche die von ihr eingegangenen, nein: geschaffenen Risiken erst eingesteht, vielleicht auch erst erkennt, wenn sie irreversibel geworden sind und als «Sachzwang» – wie einer der demokratisch gewählten Gemeinderäte von Wolfenschiessen sagt – «Demokratie ausser Kraft setzen». Der Abstraktion dieser Technologie – die nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu riechen und nicht anzufassen ist – setzt Murer die ganz konkrete Lebens-, (nicht «Natur»-) verbundenheit der bäuerlichen Existenz und des bäuerlichen Denkens gegenüber.

Die Wirkung des Films – selbst der damalige Energieminister Ogi, von Herkunft ein Bergler, zeigte sich beeindruckt – war beträchtlich. Wie weit seine Ausstrahlung am Schweizer Fernsehen die Abstimmung beeinflusste, in der sich das Schweizer Volk erstmals gegen die Atomenergie entschied, ist natürlich nicht auszumachen. Tatsache ist: die NAGRA hat das Endlager im Wellenberg vertagt, die Kompetenz für die Erteilung einer Konzession liegt nicht mehr bei der Nidwaldner Regierung, sondern dank den Bürgerinitiativen «Komitee für die Mitspräche des Nidwaldner Volks bei Atomfragen» (MNA) und «Arbeitsgruppe Kritisches Wolfenschiessen» (AKW) beim Volk. 



8 Inwiefern war - nach Richard Dindo - der Autor von «Wir Bergler in den Bergen...» ein Produkt seines noch nicht gemachten Films «Der grüne Berg»? 
Ich meine: Der strenge, für Murers Temperament schon fast asketische Dokumentarismus des Urner Films bezieht sein Leben, seine Sinnlichkeit, seine Substanz, auch seine ganz unsentimentale Zärtlichkeit aus eben jener Parteinahme für das Leben und gegen den Tod, für das Konkrete und gegen die Abstraktion, die Murer in der Fiktion von «Grauzone» und «Höhenfeuer» sinnbildlich und im 
«Der grüne Berg» explizit artikulierte. Und so wird wohl auch sein Bündnis mit den «Kindern und Kindeskindern rund um den Wellenberg» in der Perspektive – oder 
Retrospektive – von «Vollmond» eine neue Dimension und ein neues Gewicht gewinnen.