Fredi M. Murer und der junge Schweizer Film

Von Alexander J. Seiler, 1968

Noch vor zwei Jahren war Fredi Melchior Murer so etwas wie eine lokale Zürcher Zukunftslegende. Eingeweihte kannten seine Photos, seine 8-mm-Filme, wussten, dass er ein grosses 16-mm-Opus in Arbeit hatte und dass es eine ganze Gruppe junger Graphiker, Photographen und Auch-Künstler gab, die auf ihn schworen, mehr: die auf ihren «King Melchior of Cinema» als charismatische Figur eines neuen Filmschaffens eingeschworen waren. Dann kamen im Januar 1966 die ersten Solothurner Filmtage. «Pazifik oder die Zufriedenen», mit Ach und Krach termingerecht fertig geworden und von der Solothurner Auswahlkommission nur dank des energischen Einspruchs einer nicht stimmberechtigten Gattin angenommen, «Pazifik», Murers einstündiges Epos vom Hause Plattenstrasse 47 und dessen Bewohnern, wurde zur eigentlichen Entdeckung dieses ersten, noch reichlich konfusen und gelegentlich tumultuösen Schweizer Jungfilmtreffens. 



Heute, im Sommer 1967, beschränkt sich Fredi Murers Ruhm nicht mehr auf Zürich und die Schweiz. Seine Filme «Chicorée» und «Porträt Bernhard Luginbühl» haben begehrte internationale Auszeichnungen errungen und bei einer internationalen Kritik Aufsehen erregt, die seit gut einem Jahrzehnt gewohnt war, unter «Schweizer Film» Gotthelf einerseits, Industrie- und Fremdenverkehrsfilme andererseits zu verstehen.« Etes-vous vraiment Suisse?» - diese Frage soll Fredi Murer auf Festivalempfängen mehrfach gestellt worden sein. Ist er wirklich Schweizer? In Beckenried geboren, in Altdorf aufgewachsen: schweizerischer kann einer der Herkunft nach gar nicht sein. Fredi Murer erzählt gerne von seiner Kindheit, in bedächtiger, holpriger, um das treffende Wort verlegener Rede: von Hühner- und Hasenställen, die er als Aufenthaltsraum dem Schulzimmer vorzog; von Baumhütten, unterirdischen Gängen, Flössen, Hängeleitern, Fallschirmen, Detektorempfängern und «Kletterrouten» – «in der 5. Klasse stürzte ich ab auf so einer Kletterroute und lag mit einem Schädelbruch dreiviertel Jahre im Bett. Ich erzählte meinen Besuchern immer, was ich geträumt hatte, und sie glaubten es mir. Dabei war alles erfunden.» 



Auch von seinem Ausbruch aus der Innerschweiz erzählt er selbstironisch-genüsslich: wie er als 17-jähriger mit seinen Zeichnungen unter dem Arm in einer Telephonkabine der Grossstadt Zürich steht, den Sekretär des Graphikerverbandes anruft, auf der Stelle einen Job vermittelt haben möchte und ihn wenige Tage darauf auch wirklich bekommt. Wie er nach Episoden unterschiedlichster Art - als Photolaborantenlehrling, Bauhandlanger und aargauischer Juniorenmeister im Sechskampf der Leichtathleten - in die Zürcher Kunstgewerbeschule aufgenommen wird, bis zum Beginn des Schuljahres noch einmal «auf den Bau» geht und nach Ablauf dieses halben Jahres vom Chef seiner Baufirma rückwirkend den dreifachen Stundenlohn ausbezahlt erhält, weil der Chef einen Tunichtgut zum Sohn hat und es nicht fassen kann, dass ein junger Mensch sich mit seiner Hände saurer Arbeit das Schulgeld verdient. 



Wenn an Fredi Murer, diesem Spross einer Urschweizer Familie von Holzbildhauern, Gastwirten und Bauunternehmern, etwas nicht schweizerisch ist, dann das Glück, das er hat. Glück haben: das ist in der Schweiz schon fast verdächtig; an das eigene Glück, den eigenen Stern, den eigenen Weg glauben - was dann eben so aussieht, als habe einer einfach Glück -, das gilt uns Schweizern als unbescheiden, wenn nicht ungehörig. Nicht dass Fredi Murer von helvetischer Grübelei, von alpiner Melancholie ganz frei wäre - das steht ihm auf der gleichsam umwölkten Stirn und in den nachdenklichen Augen deutlich geschrieben. Aber noch deutlicher sind der Eigensinn der Mundpartie, die lässige, fast unbekümmerte und doch sehr präzise Unbeirrbarkeit, mit der er sich und seine Sache - seine Filme! - präsentiert. Phantasie, Fernweh, Tagträumerei - diese «andere», meist in die verboten-unterirdischen Bereiche des Selbst-
Zweifels und der Depression verbannte Seite des Schweizers: Fredi Murer hat sich von Kind auf zu ihr bekannt und sie als Schicksal angenommen. «Die Randgebiete des Menschenmöglichen sind mir näher als die Mitte.» Was dem Normalschweizer als Schwäche gilt, ist seine Kraft. 



«Pazifik», die überbordende und doch graziöse Beschwingtheit jugendlichen Lebensgefühls im Triumph über die Lebensfeindlichkeit einer griesgrämig-selbstzerstörerischen Gesellschaft; «Chicorée», die subtil-ironische Darstellung der heroischen Tagtraum-Ideologie eines Winkelpoeten; «Bernhard Luginbühl», das in musikalisch-tänzerische Bewegung aufgelöste Porträt eines bärenhaften Kraftkünstlers und seiner Balanceakte zwischen Emmentaler Bauernhaus und kosmopolitischer Avantgardistik - all das zusammengenommen ist das erste durch und durch persönliche (Euvre eines Schweizer Filmautors überhaupt. «Ich mache wirklich Filme aus persönlicher Neigung.» Nicht dass ich damit sagen möchte, ein Hans Trommer oder Max Haufler, ein Franz Schnyder oder meinetwegen auch ein Richard Schweizer und Leopold Lindtberg hätten ihre Filme nicht aus persönlicher Neigung gemacht, ganz zu schweigen von meiner eigenen, der erst seit kurzem «mittleren» Generation der Marti, Brandt, Goretta und Tanner, von der ich es weiss. Der Unterschied ist: jene und auch noch wir kamen zum Film aus Neigung zum Film, den wir uns als Medium erst erobern und dessen wirtschaftlichen Gegebenheiten wir uns auf die eine oder andere Weise unterordnen mussten (oder zu müssen glaubten). Fredi Murer dagegen macht Filme aus Neigung, sich auszudrücken, zu gestalten, und weil ihm der Film dafür das natürlichste, das selbstverständliche, das sozusagen angeborene Medium ist. In einer deutschen Filmzeitschrift war neulich von der Generation der Zwanzigjährigen zu lesen, die «filmen wie sie atmen». Das mag hochgestochen klingen - im Wesentlichen trifft es nicht nur auf Fred! Murer, es trifft auch auf seine Altersgenossen in der französischen Schweiz, auf Jacques Sandoz vor allem, auf Francis Reusser, Yves Yersin, Michel Soutter und andere zu. «Der Film an sich scheint mir sekundär zu sein.» Das ist kein Widerspruch - es heisst übersetzt: der Film als Kunstform ist kein absoluter Wert, er ist eine Sprache unter anderen, deren ich mich bediene, weil sie meine Muttersprache, vielleicht eine meiner Muttersprachen ist. Es heisst auch: ich verdiene «irgendwie» Geld - als Graphiker, Photograph, auf dem Bau -, finanziere mit dem Ersparten die Kosten von Rohmaterial, Kameramiete und Labor und kümmere mich erst einmal keinen Pfifferling darum, was mit meinem fertigen Film geschieht. Oder: ich filme, wie andere malen, Bildhauern, Gedichte schreiben - das Weitere wird sich finden. 



Fredi Murer ist Fredi Murer, und es liegt mir fern, ihn, den Einzelgänger und Aussenseiter aus Überzeugung, als Repräsentanten irgendeiner «Bewegung» in Anspruch zu nehmen. Und doch gibt es eine Äusserung von François Truffaut, die auf ihn so gut wie auf seine Altersgenossen unter den Romands, die zwanzigjährigen Münchner und die film makers des Underground von Greenwich Village zutrifft. Der Film von morgen, so ungefähr schrieb Truffaut vor zehn Jahren, werde ein Liebesakt sein und seinem Autor ähnlich sehen. Er werde für ein Dutzend Freunde dieses Autors gemacht sein, die ihn gut kennten und in seinem Film wiedererkennen würden; er werde etwas Intimes und Familiäres haben und den Freundeskreis des Autors erweitern. Ist das nicht aufs Genaueste die Geschichte von «Pazifik», ist es nicht auch jene von Jacques Sandoz’ «It's my life»? 



Die «Krise des Schweizer Films», die während fast zwei Jahrzehnten jedes Projekt eines von Schweizern in der Schweiz realisierten Films mit einer untragbaren Hypothek aus überspannten Erwartungen und zugleich zynischer Skepsis belastete - dieser Marasmus aus Impotenz und Resignation war das Werk von Leuten, die im Film in erster Linie einen Wirtschaftszweig erblickten. Dass der Neue Schweizer Film nicht zustande kommen konnte ohne eine Generation, die In ihm unter Ausklammerung alles Wirtschaftlichen eine Sprache, ihre Sprache sieht, scheint nur folgerichtig. Für uns «Mittlere», die wir samt und sonders zu spät zum Film kamen, als dass wir das Wirtschaftliche einfach hätten ignorieren können – für uns ist es ein unermesslicher Gewinn und ein grosser Ansporn, Fredi Murer und seine Generation im Rücken zu haben. Wir wissen: Die nächste Wegstrecke werden wir gemeinsam gehen - wir einen Schritt weiter zu unserem ganz persönlichen Film - sie einen Schritt weiter vom Schmalfilm zum Kinofilm, vom Freundeskreis als Publikum zum Publikum als Freundeskreis. 


«Daneben geschrieben 1958 – 2007» von Alexander J. Seiler
2008 erschienen im Verlag: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden

Erstmals erschien: Der Zürcher Almanach, Bemiger Verlag Zürich, Einsiedeln, Köln 1968. 

Der «Zürcher Almanach 1968» war eine Initiative von Paul Nizon, damals Kunstkritiker der Weltwoche. Von Peter Keckeis im Benziger Verlag veröffentlicht, vermittelt er ein äusserst vielfältiges Bild der Zürcher «Kulturszene» im Jahr der «Globus Krawalle». «Etablierte» Autoren (Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Arnold Kübler) und Künstler (Max Bill, Richard Paul Lohse) stehen neben und zwischen Vertretern des damaligen Underground wie Stefan Sadkowski, Urban Gwerder, Friedrich Kühn, Alex Sadkowski und eben Fredi M. Murer.