Laudatio

Spazieren mit Bruno Ganz

In jüngster Zeit wurde oft über ihn gesprochen und anlässlich seines Todes noch mehr über seine epochale Schauspielkunst geschrieben. 40 Jahre lang war die Theaterbühne seine Heimat. Für das Kino lebte er seine Profession ebenso intensiv und unverkennbar; er zauberte in über 100 Filmen eine beeindruckende Vielfalt an Figuren und Charakteren auf die Leinwand. Ein langes und dennoch viel zu kurzes Schauspielerleben, das mit 77 Jahren als unbestrittener Weltstar endete.

Ja, die Rede ist hier von Bruno Ganz, weshalb ich nicht wüsste was dem noch anzufügen wäre, was Sie nicht schon wüssten. Vielleicht, dass er im Lauf seines Künstlerlebens – ausser mit einem Oscar – mit allen erdenklichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet wurde. Neben dem sagenumwobenen «Iffland Ring», dem hochangesehenen «Hans Reinhart-Ring», dem goldenen «Chaplin-Schuh», dem hochdotierten «Adolf-Grimme»- und «David di Donatello»-Preis und einem «Bambi» für den «Untergang», wurde ihm ausserdem das Bundesverdienst-kreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen, mit dem «Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst» wurde er in die Österreichische Kurie für Kunst aufgenommen und in Frankreich sogar zum «Officier dans l’ordre des arts et des lettres» ernannt.

Wie das mit den Propheten im eigenen Land so ist, prasselte der einheimische Preissegen erst nach entsprechender Bewährung im Ausland und somit im fortgeschrittenen Alter auf Bruno Ganz nieder. Mit all den späten einheimischen Preisen an ihren grossen Künstler feierte die Schweiz eigentlich sich selbst. Als ihm 2006 der Kunstpreis der Stadt Zürich zuerkannt wurde, sozusagen als Wiedergutmachung für den skandalösen Rauswurf des legendären Ensembles um Peter Stein aus dem Zürcher Schauspielhaus, wozu auch Bruno gehörte, fragte er mich, ob ich der Laudator sein möchte. Diese Ehre legitimierte mich dazu, ihn auf seinen langen Spaziergängen zu begleiten, um Rohmaterial für meine Festrede zu sammeln und bei dieser Gelegenheit ein paar intime Fragen zu stellen. Zum Beispiel, was aus ihm geworden wäre, wenn er, statt nach Deutschend auszuwandern, in Zürich geblieben wäre. Oder ob er den Oscar wohl bekommen hätte, wenn er statt Hitlers «Untergang» Abraham Lincolns «Aufstieg» zum US-Präsidenten gespielt hätte. Auf beide Fragen reagierte Bruno mit seinem vielsagend-spitzbübischen Lächeln und fügte an, in den USA könne man mit seiner Art zu spielen nichts anfangen: «Das ist denen zu innerlich.»

An dieser Stelle wäre noch zu erwähnen, dass meine erste Begegnung mit Bruno Ganz weit zurückliegt, bis in die späten 1950er-Jahre. Als bargeldloser Kunstgewerbeschüler jobbte ich damals als Hilfsbeleuchter im Zürcher Schauspielhaus, wo ich in der vordersten Balkon-Loge mit einen Linsen-Spot die Hauptfiguren verfolgen musste. Auf dem Balkon vis-à-vis arbeitete oft ein theaterbegeisterter Optiker, der immer wieder einen blinden Passagier in seine Beleuchter-Loge schmuggelte. Wer hätte gedacht, dass dieser 17-jährige Oberreal-schüler aus Zürich Seebach 60 Jahre später von der internationalen Presse als Jahrhundert-legende der Schauspielkunst gefeiert würde.

Als ich Bruno auf einem unserer Spaziergänge daran erinnerte, sprudelte es aus ihm heraus: «Ja, ja, es war diese wahnwitzige Zeit mit Giehse, Steckel, Blech, Knuth, Blanc und der ganzen damaligen Elite. Alle Premieren habe ich aus nächster Nähe gesehen. Auch Dürrenmatts ‹Physiker› und Frischs ‹Andorra› mit Peter Brogle. Mit einer unglaublichen Verehrung und glühendem Interesse verfolgte ich alles, was dieser junge, wahnsinnige Mann auf der Bühne trieb! Er war mein absolutes Vorbild. Und dann nach der Vorstellung im Restaurant Pfauen sah ich alle diese Leute auf gleicher Augenhöhe, die vorher auf der Bühne so übermächtig waren. Grossartig!»

Da ich Bruno damals nur flüchtig kannte, wollte ich jetzt endlich aus erster Hand wissen, wie er Schauspieler geworden sei. «Auf vielen Umwegen», sagte er und erzählte, wie er als Buchverkäufer bei Jelmoli zum ersten Mal ins legendäre Café Odeon ‹reingerutscht› sei, wo sich die Bohèmiens, Künstlerinnen und Intellektuellen zum Schachspielen und Zeitungslesen trafen. Jede freie Minute sei er an der «Riviera» herumgehockt – so nennt man die Steintreppe an der Limmat beim Bellevue – und habe gelesen, und zwar querbeet, was ihm in die Finger gekommen sei: «Western- und Indianer-Romane, Spinoza, Sartre und Camus, notfalls auch den Tagi und die NZZ. Einfach alles!» Gleichzeitig habe er dreimal in der Woche bei einer alten deutschen Dame namens «Mamsi» und einem Herrn Fried Abendkurse für Sprechtechnik im Bühnenstudio besucht, so nannte sich die damalige Schauspielschule. Wobei er, nebst seiner Faszination fürs Theater, die Kurse vor allem besucht habe, um seine extreme Schüchternheit zu überwinden. Als Bruno von einer Vakanz am Theater Bremen hörte, fuhr er sofort hin, um bei Intendant Kurt Hübner vorzusprechen, einem der innovativsten und einflussreichsten Theatermacher in Deutschland. Weil dieser mit Fieber darnieder lag, gab er seinen «Prinz von Homburg»-Monolog an dessen Krankenbett zum Besten. Hübners Verdikt in Brunos Erinnerung: «Ganz, du bist wahrscheinlich ein begabter Typ, aber du kannst nichts. Du kannst nicht mal deutsch und technisch kannst du noch weniger. Trotzdem nehme ich dich. Aber ich muss dir in den Vertrag schreiben, dass du notfalls auch Regieassistenz machen musst.»

Bruno, damals 21, unterschrieb den Vertrag sofort und blieb drei Jahre in Bremen. Es seien die härtesten, lehrreichsten und spannendsten Jahre seines Lebens gewesen, eine Art Schauspielschule, nur viel besser. Dort habe er auch endlich seine Schüchternheit überwunden, oder in seinen Worten, «gelernt, sie zu akzeptieren, zu pflegen und kreativ einzusetzen». Hübners Bremer Theater galt damals als die Talentschmiede im deutschen Sprachraum schlechthin. In seinem Haus gingen alle ein und aus, die später als Theaterleute Rang und Namen hatten und ab den 1970er-Jahren deutsche Theatergeschichte schreiben sollten. Unter ihnen fanden sich Regisseure wie Peter Stein, Peter Zadek, Peter Palitzsch, Willfries Minks, Klaus Michael Grüber, Hans Neuenfels, Johannes Schaaf und Rainer Werner Fassbinder sowie spätere Bühnengrössen wie Jutta Lampe, Edith Clever, Rosel Zech, Michael König, Rolf Becker, Vadim Glowna und nicht zuletzt auch Bruno Ganz. Allen voran pflegte Bruno mit Peter Zadek eine sehr enge und intensive Zusammenarbeit. In seinen damals Stil-prägenden Inszenierungen von «Frühlings Erwachen», «Die Räuber» und «Mass für Mass» brillierte Bruno immer in den Hauptrollen. Bruno Ganz’ Begegnung mit Peter Stein sollte für beide eine fast schicksalhafte Dimension bekommen. Ihre erste gemeinsame Arbeit «Kabale und Liebe» war ein Grosserfolg. Kurz danach wurde Peter Stein als Hausregisseur ans Zürcher Schauspielhaus berufen. Bruno zog mit ihm von Berlin nach Zürich und traf dort auf ein Ensemble, das aus lauter jungen Schauspielerinnen und Schauspielern bestand, von denen er die meisten aus seiner Bremer Zeit kannte. Das war 1969. Mit seiner Zürcher Interpretation von «Tasso» stieg Bruno Ganz sozusagen über Nacht in die oberste Liga der deutschsprachigen Schauspieler auf, wo er bis ans Ende seines Lebens blieb.

Nach dem erwähnten Rauswurf aus Zürich nach nur einem Jahr, weil das politische Engagement des Stein-Ensembles im Geiste der 1968er-Jahre für die rechtsbürgerliche Stadtregierung des Guten zu viel war, zog Bruno Ganz mit Peter Stein und dem gesamten Ensemble nach Berlin, wo sie am Halleschen Ufer (später am Kurfürstendamm) die legendäre Schaubühne begründeten. Nach gut 30 Jahren Berliner «Stein-Zeit» kehrte Bruno der Theaterbühne definitiv den Rücken und wandte sich seiner zweiten grossen Liebe zu: dem Film.

Auf einem Spaziergang stellte ich Bruno auch die Frage nach seinen Wurzeln und seiner Kindheit. In Anlehnung an Werner Herzogs Film «Auch Zwerge haben klein angefangen» könnte man sagen, dass dies auch auf den späteren Riesen Bruno Ganz zutrifft. Er kam als Arbeiterkind in Zürich Seebach zur Welt. Seine Mutter Anna Trojan verliess als junge Frau in den frühen 1930er-Jahren den elterlichen Bauernhof im Veneto, um nach mehrwöchigem Fussmarsch in Zürich anzukommen, wo sie an den Türen von herrschaftlichen Villen klingelte und schliesslich bei Dr. Bircher, dem Erfinder des Birchermüesli, ihre erste Stelle als Haushalthilfe fand. Sein Vater Oskar Ganz aus Berg am Irchel, ebenfalls ein Bauernsohn, machte bei Sulzer Winterthur eine Mechanikerlehre und wurde später Werkstattchef bei Maag Zahnräder in Zürich, wo er für die technischen Belange an internationalen Fachmessen zuständig war. Wo sich sein Vater Oskar und seine Mutter Anna zum ersten Mal umarmten, konnte Bruno mir leider nicht sagen, sonst hätte ich ihn dazu überredet, an dieser Stelle eine Marmortafel anzubringen. Und da der Apfel bekanntlich nicht weit vom Stamm fällt, erlebte ich Bruno zwar immer wieder als wortkargen, introvertierten «Chnorzi» aus Berg am Irchel – aber kaum stand er auf der Bühne oder vor der Kamera, kam sogleich eine genuine Italianità ins Spiel und seine, eines Caruso würdigen, stimmgewaltige Grandezza brach aus ihm heraus.

Was Bruno und ich gemeinsam haben: Wir wuchsen beide als Arbeiterbuben auf. Aber weil der «Zürihegel» aus Seebach ein Berliner von Weltruf geworden war und ich, als ausgeflogener Innerschweizer, in Zürich sitzen geblieben bin, dachte ich immer, Bruno sei eine Nummer zu gross für mich. Oder ich für ihn eine zu klein. So war es denn Bruno, der eines Tages mit dem Wunsch für eine Zusammenarbeit auf mich zukam. Hocherfreut darüber gestand ich ihm auch meine Bedenken, dass das Schöne und Gute am grossen Theater, wo dem Publikum alles dreifach dargeboten werde, stimmlich, mimisch und gestisch, im Kino die gegenteilige Wirkung bebe. Was der Grund dafür sei, weshalb meine Regieanweisungen sich auf die vier angelsächsischen Wörtchen «don’t act, just be» beschränken würden – was doch für einen gestandenen Bühnenschauspieler seines Formats de facto einem Berufsverbot gleichkomme. Aber zu meinem Erstaunen gefiel Bruno meine Dokumentarfilm-Doktrin, und er verriet mir, dass die vier Wörtchen auch das Credo von Denzel Washington gewesen seien, an dessen Seite er im US-Thriller «Manchurian Candidate» als Wissenschaftler Delp ein trauriges Genie gespielt habe. Also einigten wir uns auf einen Geheimcode: Wann immer ich nach einer gedrehten Szene «sehr interessant» sagte, wusste er, dass im nächsten Take weniger mehr wäre. So ging aus unserer entspannten Zusammenarbeit die wundersame Figur des Grossvaters im Film «Vitus» hervor. Und weil Bruno Ganz seit jeher ein sehr gewissenhafter Schauspieler war, suchte er in den Brockenhäusern in Zürich selbst nach dem richtigen Hut, von dem im Drehbuch zu lesen war, dass dieser mit den Jahren an Grossvaters Kopf angewachsen sei.

Auf meine Frage, was für ihn die Essenz seines Schauspielerlebens sei, sagte Bruno: «Sehnsucht. Liebe. Einsamkeit.»
Nun ist Bruno Ganz nicht mehr da, aber wir können von Glück reden, dass er da war.

Vorwort für die Bruno Ganz-Retrospektive in Kinok St. Gallen
Fredi M. Murer © 15. 3. 2018