Den Sinnen vertrauen

Biografische Notizen von Walter Ruggle

Kleine Rückblende aufs Leben des leidenschaftlichen Erzählers und scharfsinnigen Wahrnehmers.
Ob man Fredi Murer anruft, ob man ihn auf der Strasse antrifft oder daheim in seiner Altstadtwohnung besucht: Es sprudelt aus ihm heraus, ein Stichwort ergibt eine Geschichte, ein Gedankengang treibt ein Dutzend Äste und Blüten. Es zeigt sich einmal mehr: Wer im Leben etwas zu erzählen hat, der hat auch Geschichten bereit, egal, wo er ansetzt. Murers Geschichten sind Bildergeschichten, auch dann, wenn er sie mündlich erzählt. Die Filmsequenzen sind da, auch wenn die meisten davon nie gedreht werden können. Im Lauf der Jahre kommt die eine oder andere doch auch auf der Leinwand zum Vorschein, als Andeutung vielleicht, als Detail. Die Fantasie nährt sich aus der Realität und öffnet dieser unbegrenzte Weiten.

Am 1. Oktober 1940 in Beckenried als jüngstes von sechs Kindern geboren, schlich sich Fredi Murer 16-jährig in einer Fasnachtnacht von zuhause davon. Er habe die Zeit der Fasnacht gewählt, weil er dachte, dann merke niemand, dass er weg sei. Sein Ziel war klar: Weg aus dem innersten Innern der Schweiz. Mit einem Köfferchen, einem Bündel Zeichnungen und selbstgeklebten Bilderbänden in jene Stadt, vor der ihn die Innerschweizer am meisten gewarnt hatten, dorthin, wo weniger hohe Berge sich erheben und die freie Sicht zu versperren drohen. Murer selber sagt später: Es war eine Flucht aus der Enge. In Zürich wollte er Grafiker werden, denn mit der väterlichen Vorstellung, dass er eine Handelsschule besuchen würde, konnte der Junge gar nichts anfangen. Davon, dass seine Mutter heimlich ganze Romane schrieb und in Bundesordnern aufbewahrte, wusste er zu jener Zeit noch nichts. Erst als über Siebzigjähriger machte er sich daran, eine ihrer Geschichten in einem Spielfilm zu verweben («Liebe und Zufall», 2014). Auch die Mutter erträumte sich die Welt über Geschichten, die sie erfand oder die sie sich mit Elementen des Erfahrenen schuf.

Das Blutbad im Reinheft

In Zürich traf der innerschweizerische Flüchtling den Vorsteher des Grafikerverbands, der ihm das sagte, was er als Legastheniker in all den zermürbenden Schuljahren nie gehört hatte: Er erkenne da in den Materialien, die er mitgebracht habe, einen Menschen, der höhere Berge und weitere Täler sehen wolle, als er bisher gesehen habe. Fredi Murer hatte das Gefühl, endlich einen getroffen zu haben, der ihn versteht. Zuvor wussten seine Lehrer bei den Aufsätzen nur mit dem Rotstift draufloszuschiessen und Orthografiefehler zu markieren, ein Blutbad zu hinterlassen, wo Fantasie blühen wollte. Am letzten Schultag habe er seine Bücher und Hefte inklusive Armbanduhr, mit dem Gelöbnis, nie wieder etwas mit Schule und Schreiben zu tun zu haben, der Reuss übergeben. Zum Glück bricht er sein Gelöbnis dauernd, so dass wir in den Genuss von sorgsam gezimmerten Reden kommen konnten, von denen einzelne auch auf dieser Homepage zum Lesen frei sind.

Alfred M. heisst die Hauptfigur im Spielfilm «Grauzone» (1978), er ist Abhörspezialist in einem Grosskonzern. Auch sein Schöpfer heisst Alfred (Fredi) M. und belauscht die Wirklichkeit, aber nicht nur auf Töne, er tastet sie auch auf Bilder ab. Fotograf wollte er werden, aber nicht einer jener Dorffotografen, die er in seiner Kindheit kennengelernt hatte, mit fleckigem weissen Schurz Passbilder belichtend, nein: In Zürich erfuhr er, dass jene Bilder, die er in selbstgefertigten Alben zusammengetragen hatte, von Menschen gemacht worden waren, die mit der Kamera in der Welt herumreisten und Fotos beim Machen gestalteten. Er trat in die Fachklasse für Fotografie an der Kunstgewerbeschule ein, arbeitete zum Geldverdienen auf dem Bau und betrieb nebenbei Leichtathletik.

Künstlern verbunden

Fredi Murer hat Zürich zu seiner Heimat gemacht. Er lebte in einer der ersten WGs der Stadt, und wie heiss das Mikroklima in diesem Treibhaus war, spürt heute noch, wer die frühen, anarchischen Filme anschaut: «Pazifik – oder die Zufriedenen» (1965) oder «Chicorée» (1966). Murer verstand sich in jenen Jahren mal als Zeichner, mal als Musiker, dann als Bildhauer. Als Filmer begann er, all diese Sehnsüchte in Annäherungen an befreundete Künstler auszuleben: Seine frühen Filme sind selber Skulpturen und Actionpaintings in einem. Ob in «Chicorée» mit Urban Gwerder oder in «Luginbühl» (1966) mit dem Berner Eisenplastiker, ob in «Sad-is-Fiction» (1970) mit Alex Sadkowsky oder in «Passagen» (1971) mit HR Giger: Wenn Murer einen Künstler porträtierte, so inszenierte er ihn, machte er ihn zum Protagonisten seiner eigenen unbändigen Spiel- und Fabulierfreude, sprengte die Bühne, auf der man sich bewegte. Wie sein jung aus dem Leben geschiedener Filmerfreund Renzo Schraner kämpfte Murer dagegen an, im Rechteck der Kinoleinwand die Welt in Ordnung zu bringen. Mit Schraner zusammen hatte er «Vision of a Blind Man» (1969) gedreht, ein frühes Stück vom Wahrnehmen mit geschlossenen Augen. Die erste Phase in Fredi Murers Schaffen ist geprägt von der Lust, den Film neu zu erfinden, und damit auch zurückzugreifen auf die Unbändigkeit, mitunter die Frivolität von Pionieren wie Georges Méliès. 1969 gestaltete er «2069», einen gut halbstündigen Abstecher in die Science Fiction zum Episodenfilm «Swiss Made».

In Bildern erzählen

Die mitunter stärksten Momente in seinen Filmen sind stumm und damit reinste Bilderzählung. Eine Studie zu «Höhenfeuer» hatte errechnet, dass in 26 von 62 Sequenzen des Films kein einziges Wort gesprochen wird. Diese Lust an der Bilderarbeit und am reinen visuellen Erzählen wurde von zwei Erfahrungen beflügelt: Für eine Filmausstellung im Kunstgewerbemuseum musste Fredi Murer Anfang der 1960er Jahre Hunderte von Fotos ab Leinwand aufnehmen – so sah er einerseits Meilensteine der Filmkunst mehrmals, montierte andererseits die Filme neu über die Auswahl der «Stills». Dieser Blick, meint Murer heute, habe eine sogartige Wirkung auf ihn gehabt: «Ich begann, Drehbücher zu schreiben, und wenn ich schreibend nicht mehr weiterkam, so zeichnete ich sie.» Und ein Zweites: Nach dem erfolgreichen Schulabschluss kam er zu einer Stelle beim Grafikdesigner, Typografen, Autor und Lehrer Josef Müller-Brockmann und musste für diesen zum Thema «Schulwesen und Erziehung» für die Expo 64 eine Lichtbildschau für monumentale Leinwände fotografieren. Murer, für den die Schule ein Albtraum gewesen war, reiste ein Jahr lang durch die Schweiz, lichtete Schulen ab, vom Kindergarten bis zur Uni, von Spezialschulen für Behinderte zu Alpeninternaten für die Kinder von betuchten Eltern. Der Beobachter, mehr noch: der Wahrnehmer in ihm konnte sich voll ausleben. «Pazifik», der in der Urfassung vier Stunden lang war und 1965 an den ersten Solothurner Filmtagen in einer einstündigen Fassung aufgeführt wurde, war sein Einstieg ins Filmen, der Einstieg in die sich bildende Filmszene auch.

Die verborgene Fiktion

Fredi Murer ist spielfilmender Dokumentarist und dokumentierender Spielfilmer. Er kann nicht nur erzählend zaubern, er zaubert auch im Alltag immer mal wieder und bringt eine Kellnerin zum Staunen, wenn das Trinkgeld, das sie eben noch sah, schon wieder spurlos verschwunden ist. Für eine Reihe zum 700. Geburtstag der Schweiz hat er 1991 einen Kompilationsfilm montiert, der den schönen und für ihn selber ausgeprägt geltenden Titel «Die verborgene Fiktion im Dokumentarfilm» trägt. Dieser kündet von der Faszination, im Alltag das Spiel zu sehen, die schlummernde Erzählkraft. Beides beflügelt einander wechselseitig, auch die Fiktion wurzelt im Alltag. Vom Teufelsstein bis zum neuen Zürcher Sechseläutenplatz hat Fredi Murer ganz nebenbei auch Momente der Veränderung festgehalten. Immer wieder ist der Wahlstädter in die Berge zurückgekehrt. In die Region, in der er einen Teil von «Höhenfeuer» (1975) gedreht hatte, kehrte er 1990 zurück, um dokumentarisch festzuhalten, wie die Menschen um den Nidwaldner Wellenberg, an dem ein nukleares Endlager entstehen sollte, mit der Bedrohung von aussen umgehen, mit welcher Weisheit und Energie, mit welchem Humor auch sie über das Endlager erzählen. Murer wollte in «Der grüne Berg» jenen in einem urdemokratische Sinn das Wort geben, die von den Atomherren als wortlos und käuflich betrachtet werden. Drei weitere Spielfilme folgten auf dem Weg in die Gegenwart, auf dem er immer tiefer auch in die eigene Geschichte vordrang.

Der widerständige Grossvater

Als seinen letzten Film bezeichnet Fredi Murer selber schon vor dem Dreh «Liebe und Zufall» (2014), der neben Lebensmomenten und Träumen seiner eigenen Mutter auch eine Hommage ans Kleintheater und das Duo Ueli Bichsel und Silvana Gargiulo ist. Davor hatte sich «Vitus» (2006) um einen hochtalentierten Jungen gedreht, der sich den elterlichen Vorstellungen widersetzte und sich selber entfalten wollte. Teo Gheorghiu, inzwischen ein weltweit gefeierter Pianist, verkörperte den jungen Widerständler, der vor allem in seinem Grossvater (Bruno Ganz) einen Mitstreiter hat. Der erste der jüngsten drei Filme heisst «Vollmond» (1998). Fredi Murer hatte ihn als Doppelerzählung derselben Geschichte konzipiert, einmal aus der Sicht von Kindern, die aus ihrem Alltag verschwinden, einmal aus der Sicht der Erwachsenen, die ihre Kinder suchen. Die Produktionsstrukturen der Schweiz und die immer technokratischeren Europäischen Fördermechanismen verhinderten die ursprüngliche Umsetzung dieses spannenden Projekts, so dass es bei einer auf einen Spielfilm verdichteten Version blieb.

Im Kern steht auch hier die Fantasie, die der moderne Alltag verkümmern lässt und die eigentlich in uns allen vorhanden wäre. Murer zeigt mit seinen Kindern, dass man sich nur die Hände reiben und sie vor die Augen halten muss und dann: wahrnehmen. Vom ungemeinen Reichtum und der Vielfalt des Wahrnehmens handeln seine Geschichten. Fredi Murer hat als Junge die natürliche Enge der Berge verlassen, um die Denkenge der Schweiz zu überwinden und seiner Fantasie die Freiheit zu gönnen, die ihr gebührt.