Laudatio
In Memoriam Pio Corradi
Pio Ante Corradi ist am 19. Mai 1940 im 400-Seelen-Dorf Buckten im Baselbiet zur Welt gekommen und hat diese in der Nacht vom vergangenen Silvester auf Neujahr – begleitet von landesweitem Feuerwerk – in seiner Wahlheimatstadt Zürich in aller Stille wieder verlassen. In den fast 79 Jahren, die dazwischen liegen, hat Pio von der Welt mit Sicherheit mehr gesehen, als der Schreibende selbst mit drei zusätzlichen Leben je zu Gesicht bekommen könnte.
Pio Corradi war auch ausserhalb der Filmszene schon zu Lebzeiten eine Legende, weshalb ich davon ausgehe, dass die Besucherinnen und Besucher der Corradi-Filmreihe im Kino Xenix schon alles Urkundliche über Pios singuläre Erscheinung wissen oder zumindest das, was anlässlich seines Todes in Nachrufen und Würdigungen zu lesen und zu hören war. Als sein langjähriger Weggefährte erlaube ich mir deshalb, auf offiziell Verbrieftes zu verzichten, um im eigenen Rückspiegel nach Erinnerungen und Geschichten zu suchen, die das Bild von Pios vielschichtiger Persönlichkeit allenfalls um einige Schattierungen und Nuancen ergänzen.
Wer sich im Grossraum rund um den Helvetiaplatz je gefragt hat, weshalb sich Pio jeweils wochenlang nicht mehr auf dem Wochenmarkt oder im Xenix blicken liess, dem sei hier in Erinnerung gerufen, dass dieser Pio in seinen 43 Schaffensjahren als freier Kameramann sage und schreibe 140 Filme gedreht hat, was eine Kadenz von 3,2 Filmen pro Jahr ergibt, und davon eben die allerwenigsten in Zürich. Und wenn ich daran denke, dass er für die Realisierung seines filmischen Lebenswerks mit nahezu siebzig teils diametral verschiedenen Charakteren und bunten Vögeln aus dem Regiefach zusammenarbeiten musste, so war dies wohl nur möglich, weil Pio über die Gelassenheit eines Zen-Bogenschützen, die Geduld eines Koalabärs und die Flexibilität von mindestens sieben Samurais verfügt haben musste.
Zu Pios treuester Langzeit-Klientel, die seine Dienste als exzellenter Bildermacher bis zu je sieben- und achtmal in Anspruch genommen hat, zählen Hans-Ulrich Schlumpf, Iwan Schumacher, Alfred Jungraithmayr, Richard Dindo und Fritz Kappeler. Wobei Pio Letzterem bereits beim ersten gemeinsamen Filmprojekt DER SCHÖNE AUGENBLICK gedroht hat: «Nach drüü Film isch fertig.» Selber habe ich von meinen knapp zwei Dutzend Filmchen und Filmen nur die letzten sechs mit Pio realisiert, davon zwei Dokumentar- und vier Spielfilme, verteilt auf dreissig Jahre. Und obwohl ich wusste, dass ich nur einer seiner vielen Regisseure war, hat mich dies nicht daran gehindert, Pio als «meinen» Kameramann zu titulieren. Vielleicht sogar mit einem Hauch von Alleinanspruch in meiner Stimme, weil meine Filme immer auch seine Filme waren. Wir machten alle die selbe Erfahrung, auf welchem Film Pio auch immer die Kamera führte, er war vom ersten bis zum letzten Drehtag stets der Erste und der Letzte auf dem Set. Was Pio zeitlebens auszeichnete, waren Integrität, Haltung und Empathie. Seit unserer ersten Zusammenarbeit bei HÖHENFEUER anno 1984, erlöschte diese Glut nie wieder, weshalb ich ihm einen schönen Anteil meiner Filmkarriere zu verdanken habe.
Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung wage ich zu behaupten, dass Pio dokumenta-rische Filme leidenschaftlicher und aus seinem Innersten heraus liebte, während er Spielfilme, mit diskreten Charme zwar, eher mit stoischer Abgeklärtheit erduldete. Wenn es um seine persönliche Anteilnahme ging, war nicht zu übersehen, dass Pio es vorzog real existierende Menschen im Visier zu haben als fiktive Figuren, die von Berufs wegen so glaubwürdig wie möglich real existierende Menschen zu spielen versuchen. Für gecastete Charakteren interessierte sich Pio eigentlich erst, wenn diese ihre Parts abgedreht hatten und in ihren massgeschneiderten Rollen-kostümen wieder real existierende Menschen geworden waren, deren Glück oder Frust echt war in ihren Gesichtern. Nicht ohne Grund war Pio immer der Meinung, dass gute Spielfilme immer auch verborgene Dokumentarfilme über die Schauspielerinnen und Schauspieler seien.
Mag sein, dass Pio die dokumentarische Arbeitsweise auch deshalb bevorzugte, weil er schon in seinen wilden Basler Jugendjahren als Saxophonist in einer Jazzband mitgewirkt hatte und sich als geborener Teamplayer in einem überschaubaren Filmteam wohler und geborgener fühlte als in der Rolle des Bandleaders einer dreissigköpfigen Formation, wie dies beim Spielfilm der Normalität entspricht.
Das will jedoch nicht heissen, dass Pio seiner Rolle als DOP (Director of Photo-graphy) auf dem Spielfilm-Sets nicht ebenso professionell gerecht geworden wäre. Dennoch wurde ich den Eindruck nie ganz los, dass ihn «grosse Kisten» nicht sonderlich glücklich machten. Denn es widersprach seinem Wesen als Zampano
auf dem Set herumzustehen und befehlshaberisch sein Licht-Team herumzukom-mandieren oder dem Kameraschwenker Anweisungen über Brennweite und Bildausschnitt zu erteilen. Seit ich Pio kenne, hatte er beim Drehen stets sein eigenes Auge am Okular und war auch immer sein eigener Schwenker. Was in Anlehnung an Descartes heissen würde: «Ich schwenke, also bin ich.»
Dennoch wäre es ein grosser Irrtum zu meinen, die Kameraarbeit, wie Pio sie praktizierte, sei ein einsamer Alleingang gewesen – im Gegenteil. Ohne Gaffer, Dolly-Grip, Licht-Team und mindestens zwei Kameraassistenzen läuft nämlich gar nichts. Stellvertretend für seine sich stets wandelnden Kamera-Crews möchte ich wenigstens Patrick Lindenmaier nennen, der bei über dreissig Filmen als Kamera-Assi, Steadicam-Operator und auch als Mann für mirakulöse Spezialeffekte an seiner Seite stand.
Und es gibt wohl auch keine Weltgegend, die Pio als Reisender in Sachen Film nicht mit eigenen Augen gesehen und von deren Bewohnern er keine Nahaufnahmen auf Augenhöhe gemacht hätte. Auf die Allerweltsfrage einer Filmjournalistin, was ihm Menschen bedeuten, antwortete er kurz und karg: «Menschen? – Ich habe Menschen sehr gerne, verschiedenartige, aus verschiedenen Milieus und verschiedenen Völkern und Kulturen.» Und Pio wusste, wovon er sprach.
Um seine Affinität für ethnologische Themen in filmische Praxis umzusetzen, war er auch bereit, sich auf abenteuerliche Projekte und existentielle Risiken einzulassen. Als er 1998 mit Lisa Fässler im Dschungel des Amazonasbeckens von Ecuador den Dokumentarfilm TUMULT IM URWALD über den kriegerischen Stamm der Huaorani-Indianer drehte, welche dafür berüchtigt waren, ihre Feinde oder unerwünschte Besucher, insbesondere Missionare und Erdölsucher, zu «Speeren», habe er abends, wenn er sich in die Hängematte gelegt habe, nie mit Sicherheit gewusst, ob er am nächsten Morgen mit einem Speer in der Brust aufwachen würde. Und als das kleine Team nach überlebtem Dreh auf dem Rückflug in die Zivilisation nach gut zwei Stunden über dichtem Urwald bemerkte, dass im Cockpit des einmoto-rigen Flugzeugs die Sonne plötzlich die Seite wechselte, und Pio den Piloten nach dem Grund für seinen «U-Turn» fragte, sagte dieser, er habe vergessen zu tanken.
Überhaupt war Pio ein grandioser Geschichtenerzähler und erst noch einer mit doppelbödigem Humor und einem Elefantengedächtnis. So wusste er noch nach 33 Jahren noch haargenau, mit welchen Schimpfwörtern ich am Morgen des 13. Drehtags das schlechte Wetter in den Urner Bergen verflucht hatte. Gleichzeitig war Pio aber auch ein grosser Schweiger. Vor allem, wenn es um sein persönliches «Departement für innere Angelegenheiten» ging, hielt er sich gegenüber allzu «gwundrigen Fräglern» mindestens so streng ans Beichtgeheimnis wie sein Wunder wirkender Namensvetter Pater Pio, der für seine Geheimnistuerei sogar heiliggesprochen wurde.
Zurückblickend könnte man unsere lange Freundschaft als eine Art temporäre Dreierkiste zwischen ihm, mir und unseren gemeinsamen Filmprojekten bezeichnen. Kaum hatten wir ein Film abgedreht, verschwand Pio oft für Jahre spurlos aus meinen Augen, um irgendwo auf der Welt auf seinem nächsten Dreh mit der gleichen vorbehaltlosen Präsenz anwesend zu sein.
Um meine Entzugserscheinungen zwischen zwei Filmen etwas zu lindern, holte ich jeweils eines seiner Kochrezepte hervor, nach denen Pio bei sich zu Hause uns Gäste kulinarische Köstlichkeiten auf die Teller zauberte. Allen voran hatten es mir seine «Malfatti» und «Involtini di vitello» angetan, die nun wiederum bei meinen Gästen mindestens so viel Applaus ernteten wie unsere gemeinsamen Filme. – Nun ist Pio nicht mehr da, aber wir können von Glück reden, dass er da war.
Fredi M. Murer © – 19. 2. 2019